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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sie denn? Wer kannte sie außer Smerdow ? Die sowjetische Bürokratie ist so unübersichtlich und verfilzt, daß sich ein Transport vom Sommer im Winter nicht mehr aktenkundig nachvollziehen läßt.
    Abukow s Antrag, erneut nach Tjumen fliegen zu dürfen, war diesmal keiner Diskussion mehr wert. Smerdow nickte nur. »Dein Theater?« fragte er. »Es klappt wirklich?«
    »Die erste Probe hatten wir schon. Die Bühne stand am Sonntag bereits provisorisch in der Halle.«
    »Es gibt in Sibirien nichts, was nicht möglich wäre«, meinte Smerdow und kam sich sehr klug vor. »Flieg nach Tjumen und bring mir hellbraune Stiefel mit. Hellbraune Stiefel sind die große Mode, das hab' ich in der Illustrierten gesehen. Meine Größe kennst du ja.«
    Also flog Abukow am Abend wieder mit einer Transportmaschine nach Tjumen, bezog wie immer ein Zimmer im Wohnheim, kaufte eine Flasche Wodka und dachte an Mustai s Wort, daß ein Mann in Sibirien zwei Geliebte haben müsse, um nicht trübsinnig zu werden.
    Nach drei Gläsern überkam ihn die Reue. Er wollte nicht zum Säufer werden. Er rasierte sich, zog ein frisches Sommerhemd an und machte einen Bummel durch die nächtliche Stadt Tjumen. Ziellos streifte er herum, ging durch Neubauviertel und durch die zum Teil noch erhaltene Altstadt mit ihren schönen, geschnitzten Holzhäusern, den bunt bemalten Fensterläden und den kunstvollen Gesimsen, sah die durch Lattenzäune abgeschirmten Vorgärten und die ehemaligen Pferdeställe, die jetzt meistens Garagen waren oder einfache Werkstätten. Ein Atem des zaristischen Rußland wehte noch um die Blockhäuser, und wenn man sich in Gedanken vorstellte, die Straße davor sei nicht asphaltiert, sondern nur festgewalzter Lehm, der im Frühjahr und im Herbst zu einer Schlammkuhle wurde – dann konnte man mit viel Phantasie die bärtige Gestalt Rasputins ahnen – jenes dämonischen Mönchs, der in Tjumen und weiter nördlich in Tobolsk gelebt hatte und von hier aus an den Zarenhof gerufen wurde, um den Zarewitsch mittels geheimnisvoller Kräfte von der Bluterkrankheit zu heilen. Ein nächtlicher Spaziergang durch Tjumen – auch durch den neuerbauten Teil der Stadt – ist nicht vergleichbar mit einem Schaufensterbummel in Paris, Rom, München oder London. Selbst die unauffälligste Kleinstadt im Bayerischen Wald hat mehr zu bieten als eine sowjetische Stadt bei Nacht. Wenn sie dazu noch in Sibirien liegt, dann kommt es einem vor, als ginge man durch eine Theaterkulisse nach dem Ende der Aufführung. Es ist die Stimmung wie in einem verlassenen Theater, bevor die letzten Lichter ausgedreht werden. Einigen betrunkenen Brüderchen begegnet man, ab und zu einem Fuhrwerk, das wie verirrt wirkt; gegen 11 Uhr nachts laufen einige Gruppen schnell nach Hause oder stürmen den Omnibus für die Außenbezirke, weil gerade irgendeine Vorstellung zu Ende ist, ein Vortrag, ein Zusammentreffen – und dann liegen die Straßen wieder einsam da, zwei Nachtkinos spielen noch, eine Handvoll Lokale ist halb voll und deshalb erleuchtet. Am Bahnhof dösen drei Taxen und warten auf Fahrgäste – woher sollen sie kommen? Nur in den beiden neuen Hotels ist noch Leben, wenn auch nicht mehr im Speisesaal, denn da wird das Licht nach dem Essen einfach abgestellt, und die Gäste werden weggetrieben in den Raum, den man Bar nennt. Gewiß, auch ein paar Huren gibt es in Tjumen – nicht offiziell, die Prostitution ist in Rußland verboten – aber man duldet sie. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß gerade unter den Ausländern russischen Weibern eine sagenhafte Liebesfähigkeit angedichtet wird, wodurch dem KGB schon manche wertvolle Information zugegangen ist – auf dem Umweg über eine heiße Umarmung. Eine große Rolle spielen dabei die ›Privatklubs‹, die offiziell niemand kennt, und doch führt jeder Taxifahrer einen dahin, wenn man es will. Bei Krimsekt, grusinischem Kognak und Kaviar oder gebratenem Stör hat im Verlauf von ein paar netten Stunden schon mancher Gast mehr gesagt, als er nüchtern verantworten könnte.
    Abukow ging die Hauptstraße hinunter, blieb vor den Schaufenstern stehen, die nicht mehr erleuchtet waren, betrachtete die im Dunkel liegenden Auslagen und stand gerade wieder vor dem Modegeschäft mit der männlichen Puppe im Frack und der Dame im Abendkleid, als ihn jemand von hinten berührte. Unwillkürlich schrak er zusammen und drehte sich schnell um.
    Ein kleiner, weißhaariger Mensch mit einem schmalen, spitzen Gesicht stand vor ihm und

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