Ein Kreuz in Sibirien
Flußkiesel sein. Sollen wir es erproben? Victor Juwanowitsch , was brauchen Sie am nötigsten?«
»Menschenwürde«, antwortete Abukow leise.
»Das einzige, was ich nicht einfangen kann!« Kabulbekow erhob sich. »Ich werde Rassim sagen, daß er mich beleidigt, wenn er weiterhin dem Theater seinen Hintern zeigt.«
Nach der Probe wurden die Mädchen fortgeführt. Im Lager blieben sie, weil es wenig sinnvoll gewesen wäre, sie bei diesem Wetter zurückzubringen und am nächsten Tag gegen einen neuen Schneesturm wieder herzutransportieren. Man hatte die Tischlerei freigemacht und Betten aufgeschlagen. Rassim warnte Kabulbekow , als er diesen Plan zähneknirschend genehmigte. »Am Sonntagabend werden Sie nur noch schwangere Künstlerinnen haben, Belgemir Valentinowitsch . Ich kann meine Soldaten nicht anbinden. Blöde Idee, Kühe in einen Bullenstall zu treiben!«
Vorsichtshalber ließ Rassim alle Fenster der Schreinerei vernageln und mit Brettern zuschlagen und schloß die Tür ab, als die Frauen in der Werkstatt waren. Vorher hatte Nina Pawlowna noch einen Kessel mit Gemüsesuppe in die Schreinerei gestellt. Löffel und Eßschüsseln ausgegeben und vier Brote geopfert. Gribow schlich herum wie ein riesiger fetter Kater und bebte vor Bewunderung beim Anblick der Hure Usmanowa . Den Rock lüftete sie sogar vor ihm, zeigte ihm einen knackigen weißen Hintern und stieß ein hohes Lachen aus, das Gribow gewaltig in die Hose fuhr. Sofort lief er zu Abukow , der als letzter noch auf der Bühne stand. »Victor, mein Herzchen!« rief Gribow und breitete die Arme aus. »Hast du ernst genommen, was ich gesagt habe? Nimm's nicht so wörtlich, Brüderchen; natürlich bleibe ich in der Theatergewerkschaft! Wollte nie raus! Sogar aktiv will ich werden. Was ist für mich zu tun?«
»Sehr viel und Wichtiges«, sagte Abukow und sah Gribow ernst an. »Das Theater wird amtlich eingesetzt werden.«
»Amtlich …«, ächzte Gribow . »Welch ein Fortschritt.«
»Nur, wenn einem der Magen nicht knurrt, kann man singen, tanzen, musizieren und spielen.«
»Das übersteigt meine Möglichkeiten«, sagte Gribow ahnungsvoll. »Wie stellt man sich das vor?«
»Ein Gespräch mit Kommissar Wolozkow wäre nützlich.« Abukow klopfte Gribow auf den riesigen Bauch. »Die Organisation wird er übernehmen. Eine gute Nacht, Kasimir Kornejewitsch .«
Er verließ den Theatersaal, und Gribow setzte sich schwer auf eine Bank, stierte in die Dunkelheit und seufzte verzweifelt. Mit Wolozkow wurde alles anders. Manchmal wünschte er sich direkt Jachjajew zurück. Dann dachte er an Dschamila , seufzte noch einmal und freute sich, daß es niemand wußte: Er besaß einen zweiten Schlüssel zur Schreinerei. War es nicht ein vorzüglicher Gedanke, mit einem Paket kalten Fleisches, frischen Brotes, einem Topf voll Butter und einer dicken Dauerwurst hintenherum in die Schreinerei zu schleichen?
Abukow stand allein in der Dunkelheit an einem Fenster und sah draußen die Scheinwerfer, mit denen das Lager kontrolliert wurde. Langsam faltete er die Hände. Der Nachthimmel lag schwer über dem Land. Morgen würde es wieder schneien.
»Ich danke dir, Herr«, sagte er leise. »Welch einen Tag hast Du uns geschenkt. Welche Zukunft, welche Hoffnung, welche Gnade. Dein Kreuz wird sich ausbreiten und die Ärmsten der Armen trösten. Und Du hast mich zu Deinem Diener bestimmt, Herr, ich danke Dir.«
Er schlug das Kreuz und war so glücklich, in Sibirien zu sein …
Die zweite Aufführung der ›Lustigen Witwe‹ durch das Häftlingstheater ›Die Morgenröte‹ übertraf an Glanz noch die Premiere. Das Bühnenbild und die Kostüme waren schöner. Auch das erweiterte Orchester klang besser, und als bei einem Tanz das Tamburin rasselte, klatschten dreihundert hungernde Vergessene begeistert mit. Trotzdem war es eine erschütternde Vorstellung, denn die Kraft der Beteiligten reichte nach zehnstündiger Schufterei im klirrenden Frost nicht mehr aus, um das ganze Stück durchzustehen. Als erster mußte sich General Tkatschew setzen, ihm folgten andere, im letzten Akt hockte fast der gesamte Chor auf Schemeln oder auf den niedrigen Versatzstücken herum und brüllte mit heiseren Stimmen seinen Part. Taschbai, der strahlende Danilo, schwankte vor der Susatkaja herum, so daß sie ihn ein paarmal stützen mußte, oder er lehnte sich gegen Bataschews Küchenschrank. Aber tapfer sang er seine Rolle zu Ende, und den Schlußwalzer tanzte er wie ein Betrunkener, kaum noch fähig,
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