Ein Kreuz in Sibirien
Wagen herausklettern konnten. Wattierte Mäntel trugen sie, um die sie jeder beneidete, der sie sah – aber sie arbeiteten zum Teil ja in der großen Schneiderei, die alle Kleidung für die Lager herstellte. In große Ballen verschnürt, wurden die Kleider jede Woche abgeholt und zum Zentrallager gebracht, wo die Verteilung vorgenommen wurde. Man übernahm die Lieferungen in eine kompli zierte Planwirtschaft und wurde sich demzufolge über den Zuteilungsschlüssel erst dann endlich einig, wenn die Schneeschmelze eintrat und niemand mehr nach Stepphosen und Steppjacken verlangte. So geschah es, daß man die Winterkleidung nun fleißig einlagerte und sich auf die hereinkommende Sommerkleidung stürzte, die so gewissenhaft verwaltet wurde, daß sie bei Einbruch des Winters zuteilungsreif war. Da um diese Zeit nun auch wieder niemand nach dünnen Baumwollhosen und Hemden rief, wurden die Lager zu klein, und die Planwirtschaftsbeamten verzweifelten und starrten verstört um sich. Nicht anders war es mit Handschuhen, Unterwäsche oder Schuhen: Sobald sie registriert waren, stellte man fest, daß die Zeit davongelaufen war. Wer konnte gegen höhere Gewalt ankämpfen? Kein Russe wunderte sich mehr darüber.
Oberst Kabulbekow begleitete seine Theatertruppe in einem dicken Fuchspelz, Fellstiefeln und einer riesigen Fuchspelzmütze und umarmte Rassim , der seinen Kollegen vor der Kommandantur begrüßte. Dann drückte er Wolozkow die Hand und wartete, bis die Mädchen in der Theaterhalle verschwunden waren.
»Vier Stunden haben wir gebraucht für diese kurze Strecke«, sagte er. »Im Schrittempo mußten wir fahren. Nichts zu sehen! Nur weiße, wirbelnde Wolken um uns. Und plötzlich, wie weggeblasen, nichts mehr. Eine unschuldige Natur! Dies Land überrascht einen immer wieder. Rassul Sulejmanowitsch , eine unbändige Sehnsucht nach Tee und Wodka habe ich in mir.«
Auf der Bühne hatten sich inzwischen die Mädchen um Abukow versammelt. Langsam tauten sie auf, hüpften auf der Stelle, schlugen die Arme um sich und hauchten in die Hände. Die ehemalige Geliebte des Ministers Anastassija Lukanowna Lasarjuk und die kleine, zarte Flötistin Lilith Iwanowna Karapjetjan überreichten ihm ein kleines, kunstvoll geschnitztes Kruzifix aus Zedernholz. Das Gesicht Christi war nicht vom Schmerz verzerrt, sondern es lächelte, als sei es bereits in der Seligkeit aufgegangen. »Wir werden es in das Bühnenbild einbauen«, sagte Abukow ergriffen. »So, daß es niemand von unten sieht, aber jeder von euch weiß, wo er es finden kann. Es wird unser Kreuz in Sibirien sein – unser Glaube, unsere Hoffnung auf das Leben.«
In den vergangenen Wochen hatten die Frauen viel gearbeitet. Neue Kostüme brachten sie mit, drei geschnitzte, große, dröhnende Holzflöten, zwei Handtrommeln, ein Schellentamburin mit Blechplättchen, ein langes Holz-Xylophon und drei Okarinas . Ihr ganzer Stolz aber war eine Harfe, bespannt mit Tiersehnen und verschieden dickem Draht. Das ganz Besondere daran war, daß diese schöne, weich klingende Harfe von der Hure Dschamila Dimitrowna Usmanowa entworfen und gebaut worden war, was selbst Oberst Kabulbekow mit Stolz erfüllte. Er ließ sich das Instrument von Dschamila vorspielen und bog sich vor Lachen, als sich herausstellte, daß sie unfähig war, auch nur ein paar Takte darauf zu zupfen und sich deshalb mit einem melodielosen Klimpern begnügen mußte.
Da eine der drei Pianistinnen im Lager auch Harfe spielen konnte, kam Kabulbekow doch noch in den Genuß eines Konzerts für Blockflöten, Harfe und Handtrommel und bewilligte der glücklichen Dschamila eine Schüssel Bohnensuppe mit Speck und Fleisch aus der Offiziersküche.
Problematisch im Hinblick auf das Theater war die Lage bei den Männern. Die Arbeit in Eis und Frostwind höhlte sie noch mehr aus als im Sommer die Hitze und die unzähligen Mückenschwärme. Der Dirigent Nagijew hustete ununterbrochen und krümmte sich dabei zusammen, aber da er noch einigermaßen gehen konnte, wurde er bei jeder Untersuchung arbeitsfähig geschrieben und in den Wald gejagt. Taschbai Valerianowitsch Aidarow , der elegante Danilo der ›Lustigen Witwe‹, schlug sich mit einem dicken Furunkel am linken Oberschenkel herum. Selbst Owanessjan war es nicht möglich, ihn in seiner chirurgischen Abteilung zu verstecken. Leutnant Sotow, im Auftrage Rassims nun bei allen Selektionen als wachsames Auge dabei, verhinderte das mit den Worten: »Man schmiere ihm schwarze Salbe darauf,
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