Ein Kreuz in Sibirien
das reicht! Pferde mit dicken Geschwüren am Arsch habe ich gesehen, die schleppten Stämme aus dem Wald. Was ein Pferd kann, können wir schon lange.« Owanessjan hatte nicht, wie die Tschakowskaja , den Mut, Leutnant Sotow einfach aus dem Zimmer zu werfen. Er gab seufzend den lieben Jungen Taschbai zur Arbeit frei und blickte weg, wenn er dessen flehende Augen sah.
Nun stand Taschbai da auf der Bühne, sollte seinen Danilo singen und tanzen und hielt sich vor Schwäche an Bataschews dekoriertem Küchenschrank fest. Nicht anders erging es den Musikern im Orchester. Vor allem der Bläser der Riesentuba hatte kaum Luft, um diesem Sondermodell einen Ton zu entlocken. Auch er hustete nach jedem Blasstoß , starrte Nagijew , den Dirigenten, qualvoll an und zuckte mit den Schultern.
Arikin , der Schriftsteller, und Lubnowitz , der Physiker, den man wieder hochgepäppelt hatte, saßen wie auch der immer mehr vergreisende General Tkatschew auf Stühlen herum und blickten ins Leere.
»Angst haben wir«, sagte Arikin , völlig gegen seine Art, denn bisher war er der mitreißende Optimist der Gemeinde gewesen; »Angst vor den nächsten Wochen. So viele werden sterben von uns. Nicht aufzuhalten ist es. Grausam wird dieser Winter werden. Und keiner wird sich um uns kümmern.«
»Ich bin da!« sagte Abukow .
»Du kannst beten, unsere Leichen segnen und uns begraben. Aber hast du Mäntel, Handschuhe und warme Stiefel? Ein paar Happen mehr zu essen bringst du uns und Gottes Wort, aber die Ohren frieren uns ab, und der Frost läßt die Lunge erstarren. Drei Winter habe ich hinter mir – diesmal wird es der schrecklichste sein!«
Bei der Probe verteilte Abukow einige Dinge, die er schon in Surgut heimlich abgezweigt hatte: kleine Stücke Fleisch und Speck. Währenddessen probte unten vor der Bühne das Orchester und lenkte die wenigen Zuschauer – meist dienstfreie Wachsoldaten – von dem ab, was hinter Bataschews Küchenschrank geschah.
Abukow s Gemeinde war nun 134 Seelen stark. Jedesmal, wenn er im Lager erschien, stellte Professor Polewoi ihm neue Mitglieder vor, mit denen Abukow dann kurz betete und die er segnete. Auch Margarita Nikolajewna Susatkaja hatte gute Nachrichten aus dem Frauenlager. Dort war die Gemeinde auf 289 Frauen angewachsen, nachdem es herumgeflüstert worden war, daß ein Priester gekommen sei. Am dringendsten verlangten jene Frauen nach Abukow , die es geschafft hatten, schwanger zu werden, und nun darauf warteten, daß man sie in ein anderes Lager brachte, fern vom Holzfällen und von der Arbeit im Sägewerk, vom Straßenbau und Rohrumwickeln mit Asbestmatten. Vielleicht wurden sie auch begnadigt, mit der Verpflichtung, in Sibirien zu bleiben als freie Verbannte. Alles war recht – nur weg aus der Menschenmühle in den Wäldern!
Zwei Stunden später erschienen Kabulbekow und Wolozkow im Theatersaal und setzten sich in die erste Bankreihe. Der Schuster Tschalup sang gerade ein Couplet. Erst bei den Vorbereitungen zur ›Lustigen Witwe‹ hatte man entdeckt, daß er der geborene Buffo war und tanzen konnte, als habe er Gummibeine. Das hatte er selbst nicht gewußt. Inzwischen war er von sich so begeistert, daß er schwor, nach seiner Entlassung – noch drei Jahre waren es – keinen Schusterhammer mehr anzurühren, sondern beim Theater zu bleiben.
Drei Jahre – das war so wenig und doch so viel. Noch drei Jahre ›Lagerhaft‹, wie es amtlich so harmlos heißt … welch ein Gebirge der Hoffnung mußte da noch überstiegen werden!
Abukow kam von der Bühne herunter und stellte sich breit vor Kabulbekow und Wolozkow auf. Hinter Bataschews Küchenschrank aus polierter Birke wurden nämlich noch immer die Lebensmittel zerteilt und in kleine Päckchen verpackt, die man dann nach der Probe ins Lager und durch die Kontrolle schmuggeln konnte.
»Wie sieht es aus?« fragte Kabulbekow .
»Schlecht, Genosse Oberst.«
»Wem klagen Sie das?« Belgemir Valentinowitsch zog an seinen Fingern, daß die Gelenke knackten. »Einen Krach habe ich mit der Verwaltung, sage ich Ihnen, Victor Juwanowitsch . Wie gut geölte Automaten nähen meine Frauen Winterkleidung, sogar Schafspelze sind dabei, sicherlich gedacht für die schwersten Außenarbeiten – und wo bleibt das alles? Es wird verwaltet! Was habe ich vorgeschlagen? Keine Umwege mehr, Genossen: Ich liefere die Kleidung direkt ins Lager von Kamerad Rassim ! Ha! Dieses Geschrei der Beamten! Sabotage der Planwirtschaft, das war das Mildeste, was ich hörte.
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