Ein Kreuz in Sibirien
Werkstatt zu Werkstatt. Gulasch und Marmelade, na gut – aber wer gibt schon einen Block Schmalz ab? Selbst wenn man genug zu essen hat – eine Vorstellung, die geradezu phantastisch war – und sich den Bauch vollschlagen kann: Einen Block Schmalz herzugeben, das ist etwas absolut Unglaubliches.
Larissa Dawidowna ließ Mirmuchsin zu sich kommen. Er erschien mit zwei großen Kanistern auf dem Rücken in dem Glauben, man verlange im Lazarett nach seiner Limonade. Welchen Sinn sollte es sonst haben, daß die Tschakowskaja ihn rief?
Aber schon im Eingangsflur fing ihn Professor Polewoi ab. »Was ist das für einer, dein neuer Freund?« zischte er Mustai zu.
Mirmuchsin wurde es kalt unter den roten Haaren, so kalt wie seine Limonade auf dem Rücken. »Hat er was angestellt?« fragte er voll Schreck. »Mit seinem dämlichen Theater?«
»Was heißt Theater? Er wirft mit Schmalz um sich!«
»Der Himmel stürzt ein«, sagte Mustai erschüttert. »Welch ein Idiot! Wem verkauft er es? Man muß ihn warnen. Sag ich es nicht: Ein Neuling, unschuldig wie ein Lämmchen. Ich muß ihn erst noch anlernen.«
»Er hat es dem General geschenkt; für uns alle«, sagte Polewoi. »Draußen an der Trasse. Brachte Ware ins Magazin der Bauleitung. Und kommt dann daher mit einem Sack voll Schätzen. Mustai, was ist Abukow für ein Mensch?«
»Wie man sieht, ein guter Mensch.«
»Und ein unvorsichtiger.«
»Schmalz gibt er her für die Häftlinge! Das habe ich nicht erwartet. Habe eher gedacht: Der entwickelt sich wie Gribow zu einem Gauner. Fünfzig Prozent vom Geklauten steht ihm zu.« Mirmuchsin sah den Professor mit flackernden Augen an. »Bei Allah, wenn er auf den Gedanken kommt, diese fünfzig Prozent euch zu geben?«
»Warum sollte er? Das ist ja die große Frage, Mustai Jemilianowitsch: Warum? Da kommt einer freiwillig nach Sibirien, um viel Rubel zu verdienen und sich ein gutes Leben aufzubauen, und was tut er? Er verschenkt Dinge, mit denen er reich werden kann.« Polewoi schüttelte den Kopf. »Es stimmt da etwas nicht. Vorsicht ist geboten, Mustai!«
»Für Victor Juwanowitsch ertränke ich mich in meiner eigenen Limonade«, rief Mirmuchsin leidenschaftlich.
»Das ist allerdings ein schrecklicher Tod«, sagte Polewoi sarkastisch, gab Mustai einen Schubs und ging davon. Mirmuchsin schüttelte den Kopf, dachte angestrengt über Abukow nach und kam zu dem gleichen Schluß: daß niemand in Sibirien ein Vermögen an Sträflinge verschenkt, ohne einen überwältigenden Hintergedanken dabei zu haben.
Die Tschakowskaja ließ Mustai sofort in ihr Zimmer, als man ihn meldete. Sie saß hinter dem Schreibtisch, füllte Krankenberichte aus, denn obwohl ein Häftling weniger wert war als zum Beispiel ein Automotor, verlangte die Bürokratie des GULAG genaue Meldungen aus den Lazaretten und Kommandanturen. Auch tote Seelen müssen verwaltet werden – was wäre ein Beamter ohne Akten?!
»Du hast es schon gehört?« fragte sie, als Mustai seine Kanister von der Schulter wuchtete und abstellte. »Abukow ist dein Freund, sagst du, sagt er … Aber er benimmt sich völlig rätselhaft. Du kennst ihn erst seit Tjumen?«
»Ja. So ist es.«
»Eine kurze Zeit, Mirmuchsin.«
»Vielleicht hat er Verwandte, die ebenfalls eingesperrt sind. An die erinnert er sich. Wenn er uns Gutes tut, denkt er an sie. Möglich ist das. Es gibt solch gute Herzen.«
»Und wenn er doch nur Fallen stellt und uns an den KGB verrät?«
»Er wird's nicht lange überleben, Larissa Dawidowna«, sagte Mustai mit großem Ernst. »Lautlos werde ich ihn erdrosseln und im Sumpf versenken. Das sei euch allen geschworen!«
Die Tage gingen dahin, die Schufterei am Trasseneinschlag höhlte die Menschen aus, die Motorsägen kreischten in der Taiga, in den Sumpf wurden weiterhin die Stahlstützen gerammt und die Betonpfeiler gegossen, Meter um Meter, in glühender Sonne und schwirrenden Moskitowolken. Und Abukow wurde immer unheimlicher.
Wie angekündigt, brachte er bei jedem Transport zu dem Bauleitungs-Magazin auch ein Säckchen Köstlichkeiten für die Häftlinge mit. Gutes Mehl, nicht muffig, wie sonst üblich. Grieß und Graupen, Fett in Büchsen. Fisch in Konserven. Zucker und Pakete mit Fertigsuppen. Alles Dinge, die man aufheben konnte und die gefahrlos das Lagertor passierten. Seine eigentliche Fracht, das Frischfleisch, das Geflügel, die Milch konnte er hier draußen an der Trasse nicht verteilen. Bei 35 Grad Hitze verdarb es zu schnell, und außerdem kann man
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