Ein Kreuz in Sibirien
hatte und nicht mehr nötig war, nistete sich wieder ein.
»Wir werden es sehen, wie Jachjajew sich in den nächsten Tagen verhält«, sagte die Tschakowskaja, und es klang durchaus nicht beruhigend. »Ob es einen Sinn hat, Mustai nach Surgut zu schicken? Nun, abwarten können wir …«
Am nächsten Morgen fuhr Mirmuchsin doch nach Surgut. Einer der Lastwagen nahm ihn mit. Der Fahrer des Kühlwagens Nummer 11, den Mustai verhörte, konnte nur berichten, daß der Genosse Einsatzleiter ihm das Fahrzeug mit den Worten anvertraut hatte:
»Behandele es wie dein Auge oder das, was dir am wertvollsten ist! Es ist der Wagen, der am besten in Ordnung ist!«
Weiter nichts. Keine anderen Erklärungen. Wie verdächtig war das! Kein Wort über Abukow. So, als ob es ihn überhaupt nicht gegeben hätte. Immerhin nahm Mirmuchsin eine dünne, mehrfach gedrehte, stabile Seidenschnur mit. War es nötig, wollte er seinen Schwur einlösen und Abukow, wenn er ihn fand, nach altehrwürdiger Art erdrosseln.
Victor Juwanowitsch Abukow ging es gut in Surgut. Er wohnte im staatlichen Wohnheim, verpflegte sich in der Kantine, hatte bereits am fünften Tag im Gewerkschaftshaus ein Theaterstück besucht – eine Komödie von Tschechow, die eine Laienschauspielergruppe aus Tobolsk aufführte – und hatte den für ihn zuständigen Einsatzleiter um drei Tage Urlaub nach Tjumen gebeten.
»Eine wichtige Sache habe ich bei der Zentralverwaltung vorzutragen«, sagte er. »Einen nützlichen Verbesserungsvorschlag.«
Man fragte nicht lange, schrieb ihm eine verbilligte Flugkarte nach Tjumen aus, und Abukow flog am Montagmorgen in das Herz der Pipelineverwaltung.
Zunächst begann das alte Spiel. Er durchlief ungezählte Beamtenzimmer, wartete in Vorräumen, erfuhr von jedem, daß er nicht zuständig sei, bis er an einen Genossen geriet, der verblüfft fragte:
»Was wollen Sie? Ein Theater gründen? Im Lagerkomplex Nowo Wostokiny? – Ich stelle Ihnen gern einen Schein für eine Untersuchung beim Psychiater aus. Stimmen Sie dem zu?«
Am frühen Nachmittag des zweiten Tages stand er endlich dem Genossen gegenüber, vor dem selbst Jachjajew eine strammere Haltung einnahm. Er war der Beauftragte für die Kulturarbeit des Bezirkes, auf den ersten Blick ein feiner Mensch mit Manieren und einer sichtbaren Bildung: Er bot Abukow, dem einfachen Fahrer, einen Lederstuhl an. Und er hörte Abukow zu, ohne ihn zu unterbrechen. Vor allem warf er ihn nicht hinaus.
»Geben Sie es zu«, sagte er, als Abukow seinen Vortrag beendet hatte, »das ist eine total verrückte Idee!«
»Aber sie ist kulturell wichtig und fördert die Arbeitsmoral. Darauf kommt es allein an. Geistige Freude erzeugt innere Kraft; sie ist wie ein Transformator.«
»Trotzdem bleibt es eine Verrücktheit!« Der vornehme Genosse, dem man ansah, daß er einen gebratenen Stör grätenfrei zerlegen konnte und ihn nicht roh zerteilte, betrachtete Abukow mit Wohlwollen. Das war viel wert. Jachjajew zum Beispiel hätte ihm Fußtritte angedroht. »Lobenswert ist, daß Sie sich Gedanken gemacht haben, wie man in Taiga und Sumpf Kultur fördern kann.«
»Wir haben dort zwar Radio, wir können Filme sehen – aber all das ist eine passive Kultur. Sagt man jedoch: Jeder, der will, der es sich zutraut, der Freude daran hat, kann mitspielen – in einem Lagerorchester, im Chor, als Solist auf der Bühne, als Maler für die Bühnenbilder, als Beleuchter, als Maskenbildner, oder es schleppt einer auch nur die Kulissen hin und her, was glauben Sie, Genosse, was passiert? Die allgemeine Arbeitsleistung wird steigen. Ob verrückt oder nicht: Ein Theater halte ich für einen wichtigen Motor der Arbeitsmoral. Werfen Sie mich vor die Tür, wenn Sie anderer Meinung sind.«
Abukow blieb drei Stunden bei dem einflußreichen und sonst sehr gefürchteten Genossen, und das bedeutete: Seine Idee wurde eingehend diskutiert.
»Es ist technisch nicht durchführbar!« sagte der feine Genosse schließlich und schüttelte fast bedauernd den Kopf. »Abukow, mein Ohr ist immer offen, wenn es Theater hört. Kulturerziehung betrachte ich als eine der wichtigsten Aufgaben der bolschewistischen Revolution. Nicht umsonst genießen unsere Künstler eine bevorzugte Behandlung. Jeder Künstler ist ein Baustein der Zukunft. Trotzdem – undurchführbar!«
»Was ich brauchen könnte, Genosse«, sagte Abukow ganz vorsichtig, »wäre nichts weiter als ein Papierchen, das es mir erlaubt, die Gründung einer Theatergruppe zu
Weitere Kostenlose Bücher