Ein Kreuz in Sibirien
Stempeln überreicht wird, weiß er, daß sich irgendeine Behörde um ihn kümmert. Der Tag wird dann trübe. Noch vor dem Lesen weiß man, daß große Lasten auf einen zukommen. Ein amtlicher Brief ist immer ein Druck auf die Seele. Darin sind alle Menschen Brüder: Von einer Behörde kommt selten etwas Fröhliches.
Auch Rassims Stimme blieb im Ansatz eines Aufbrüllens stecken, als er das Schreiben sah. Von dem Papier starrte er zu Abukow hinauf, erkannte plötzlich, daß er als Sitzender eine schlechtere Position hatte, denn von unten nach oben zu blicken ist stets eine Unterwürfigkeit, und sprang deshalb auf, musterte Abukow scharf und sagte ziemlich normal:
»Was ist das?«
»Eine Vollmacht des Genossen Kulturbeauftragter der Region Tjumen, Zentralbüro für politische und geistige Bildung. Einen schönen Gruß soll ich bestellen.«
Das war nun gewaltig gelogen, Rassim kannte keinen Kulturbeauftragten in Tjumen – aber so etwas zeigt man nicht; man nimmt die Grüße an, als kämen sie von einem Zwillingsbruder. Rassul Sulejmanowitsch nickte also gnädig, nahm das Dokument, überlas es und ließ es auf den Tisch zurückflattern. Die Haut um seine Augen zuckte, eine übermenschliche Anstrengung war's, nicht doch aufzubrüllen und diesem Abukow einen Tritt zu geben.
»Ein Theater …«, sagte Rassim mühsam. »Was für ein Theater?«
»Ein richtiges, Genosse Kommandant.«
»Auf einer Bühne …«
»Natürlich. Wir haben im Lager die schöne große Stolowaja, die Versammlungsbaracke, wo der Genosse Jachjajew seine Schulungen abhält. Da kann man an der Stirnseite eine Bühne aufbauen.«
»Mit Dekorationen, Kostümen, Schauspielern, Sängern …«, keuchte Rassim.
»Komplett! Mir schwebt da sogar ein Orchester vor, ein gemischtes Orchester aus der Musikkapelle des Militärs und aus den Musikern unter den Häftlingen.« Abukow zog das zweite Dokument aus der Tasche. Rassim schielte auf das Papier und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Darf ich dem Genossen Kommandant eine zweite Vollmacht vorlegen?«
»Worüber?« fragte Rassim kurz und heiser.
»Wenn bescheinigt wird, daß ein Theater nützlich ist für die politische und kulturelle Weiterbildung der Häftlinge, bekomme ich Bezugscheine für Noten, Instrumente, Textbücher, Dekorationsstoffe, Farbe, Leinwand, die elektrische Einrichtung – sagen wir: die Grundausstattung der Bühne. Es genügt nur eine Zeile von Ihnen, Genosse Kommandant.«
»Von mir?« Rassim nahm das zweite Schreiben aus Tjumen entgegen. Es war ebenso allgemein gehalten wie das erste; man konnte es ernst nehmen oder zusammenknüllen und als Kügelchen zum Spielen benützen. Es kam allein darauf an, wie man den Brief las und auffaßte. »Ich soll diesen Blödsinn genehmigen?«
»Formell!« sagte Abukow vorsichtig. »Der Genosse in Tjumen wollte auf gar keinen Fall an dem Genossen Kommandanten vorbeibestimmen. Schließlich sind Sie der Herr im Lager.«
Wirft man einem Hund einen saftigen, duftenden Knochen hin – er kann noch so satt sein, er wird ihn beschnuppern und wohlig zwischen die Zähne nehmen. Menschen sind da nicht anders: Streichelt man ihre Eitelkeit, tröpfelt überall Wohlwollen aus ihnen heraus. Warum sollte Rassim eine Ausnahme sein?
»Ich werde mit dem Genossen in Tjumen telefonieren«, sagte er streng. »So einen Irrsinn zu unterschreiben muß überlegt sein. Bei mir im Lager ein Theater! Mit gemischtem Orchester! Meine Sträflinge singen Wagner! Spielen Gogol!«
»Und Schiller …«
Rassim atmete tief durch. Der Name Schiller bedeutet im Kulturbewußtsein jedes Russen einen Höhepunkt. Was von Schiller kommt, ist unantastbar. Abukow hatte davon gelesen, als er noch in Rom Pater Stephanus hieß: In den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern durften deutsche Gefangene Theater spielen, wenn es Stücke von Schiller waren. Und so war dann schließlich alles von Schiller – man spielte sogar ›Charlys Tante‹ und ›Der Raub der Sabinerinnen‹ als Schillers Werke. Nicht zu vergessen die in den Lagern selbstgeschriebenen Theaterstücke: alle von Schiller. Der Name allein verbreitete Ehrfurcht.
Auch für Rassim war Schiller natürlich ein Begriff. Im Theater der Militärakademie hatte man ›Wallenstein‹ aufgeführt, alle drei Teile, und sie hatten bei Rassul Sulejmanowitsch einen tiefen Eindruck hinterlassen. Er hatte hinterher sogar eine militärwissenschaftliche Abhandlung über die strategischen Fehler Wallensteins geschrieben, für die er sehr gelobt
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