Ein Kuss und Schluss
mich zu drei Monaten in der Jugendstrafanstalt, und es war schrecklich! Einfach furchtbar! Vorher hatte ich nie kapiert, was so schlimm daran sein sollte, eingesperrt zu sein. Doch dann begann ich ernsthaft über meine Zukunft nachzudenken, wie dumm ich mich benommen hatte und dass ich einiges in meinem Leben ändern sollte. Aber ich war immer noch viel zu cool, um mit irgendwem darüber reden zu können. Also erhielt ich eine besondere Einladung zu einem ›Angstprogramm‹ im Staatsgefängnis.«
Sie verstummte, weil die Erinnerung so schrecklich war, dass sie nicht einmal darüber nachdenken wollte, geschweige denn darüber reden. Aber sie musste es tun. John musste erfahren, was damals mit ihr geschehen war, sonst würde er nie verstehen, wie sie sich entwickelt hatte.
»Ich hatte es mir gar nicht so schlimm vorgestellt. Weißt du, ich habe all die Alkohol- und Drogenvorträge an der Highschool mitgemacht, wo ein ehemaliger Süchtiger seine Geschichte erzählt und einem sagt, dass man nicht tun soll, was er getan hat. Ich glaube, ich habe etwas in der Art erwartet. Ich ging mit meiner üblichen Leckt-mich-amArsch-Einstellung hin. Was sollten diese Leute mir noch erzählen können? Dann stand eine der Frauen auf und redete. Nein, eigentlich hat sie gebrüllt, wie ein Rekrutenausbilder. Ich weiß noch genau, dass mein Herz wie rasend geschlagen hat.«
Wieder musste Renee eine Pause machen, weil die Erinnerungen so lebhaft waren, dass sie kurz davor stand, in Tränen auszubrechen.
»Irgendwann musterte mich eine der Frauen von oben bis unten, mit geradezu lüsternem Blick. Sie strich mir durchs Haar und sagte, ich müsse mir keine Sorgen machen, weil ein hübsches Mädchen wie ich im Gefängnis sehr belieht sei. Es war schrecklich. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Es war, als säße ich bereits im Gefängnis und könnte jeden grausamen Augenblick spüren, der mich erwartete, wenn ich mich nicht zusammenriss. Da habe ich endlich die Entscheidung getroffen, mich zu ändern. Ich schwor mir, niemals, unter gar keinen Umständen noch einmal einen Fuß in ein Gefängnis zu setzen. Allein die Vorstellung, an einen solchen Ort zurückzukehren, macht mich völlig fertig.« Sie versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, und sprach leiser weiter. »Ich würde alles tun, um nicht ins Gefängnis zu kommen, John. Alles.«
Er sagte nichts, starrte nur geradeaus, mit angespannter und ausdrucksloser Miene. Sie wusste, dass er sich noch immer das Recht vorbehielt, jederzeit den Raum zu verlassen und die Tür hinter sich zuzuschlagen.
»Was danach kam, war die Hölle für mich«, fuhr sie fort, »aber ich habe es geschafft, mich aus dem Dreck zu ziehen. Ich bekam eine Stelle als Kellnerin bei Denny‘s. Ich musste in Polyesterschuhen rumlaufen. Und der ganze Mist. Aber nach einer Weile hatte ich bessere Jobs. Wie gesagt, am Abend, als der Überfall stattfand, war ich zur Oberkellnerin des Renaissance befördert worden. Ich hatte so lange auf diesen Job gehofft und ihn endlich bekommen. Ich war so aufgeregt. Ich dachte, mein Leben hätte sich endlich zum Guten gewendet. Und dann ...« Sie seufzte. »Und dann das. Ich bin nicht mehr die trotzige Jugendliche, die ich einmal war, John. Ich habe den Laden nicht überfallen. Nach dem, was ich im Gefängnis erlebt habe, reicht der bloße Gedanke, auch nur einen Schritt außerhalb des Gesetzes zu tun, mich in kalten Angstschweiß ausbrechen zu lassen. Das musst du einfach verstehen.«
Er sah sie an. »Ist das alles?«
Seiner monotonen Stimme war keine Regung mehr zu entnehmen. Sie hatte keine Ahnung, was er als Nächstes planen mochte. Er hatte wieder die unbewegliche Polizistenmaske aufgesetzt, und sie wusste nicht, ob er ihr glaubte, dass sie nicht mehr wie früher war.
Alles. Du musst ihm alles erzählen.
»Im Gefängnis fragte mich eine der Frauen, ob ich mich von jedem vögeln lasse. Ich sagte Nein, aber das war natürlich gelogen. Ich hatte die Rücksitze sämtlicher aufgemotzten und hochfrisierten Autos kennen gelernt, die von Jungen aus Tolosa gefahren wurden. Und plötzlich konnte ich nur noch daran denken, wie viel Glück ich während der ganzen Zeit gehabt hatte, dass ich nie schwanger geworden war, weil kein Einziger dieser Jungen sich um irgendetwas gekümmert hat.«
Und dann dachte sie daran, wie all diese Begegnungen bei ihr das Gefühl hinterlassen hatten, sofort duschen zu müssen, um sich von der Schande zu reinigen. Warum nur hatte sie es nicht so
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