Ein Kuss und Schluss
der Tag kommen, wo er sie Justitias Händen übergab, damit das Gericht entschied, was mit ihr geschehen sollte. Der einzige Lichtblick war, dass dieser Tag noch nicht gekommen war, zumindest nicht heute.
Dann kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Er hatte gesagt, dass er an ihre Unschuld glaubte, auch wenn er keine Beweise hatte, die diese Vermutung stützten. Aber was war, wenn er auf Hinweise stieß, die gegen sie sprachen? Wie würde er dann zu ihr stehen?
Im Wald hatte er sie gefragt, ob sie vorbestraft war, und sie hatte mit Nein geantwortet.
Was war, wenn er von ihren Jugendstrafen erfuhr? Wäre ihm bewusst, dass sie inzwischen zu einem ganz anderen Menschen geworden war? Dass die erwachsene Frau, in die sie sich verwandelt hatte, nicht einmal ein Stück Kaugummipapier auf den Bürgersteig werfen würde? Dass ihr die Erinnerung an das dumme Mädchen, das sie einmal gewesen war, so große Schmerzen bereitete, dass sie gar nicht mehr daran denken wollte?
Nein. Sie durfte es nicht riskieren, ihm davon zu erzählen. Die Akten wurden unter Verschluss gehalten, und sie durften in einem Verfahren nicht als Beweis herangezogen werden. Er würde niemals davon erfahren.
Andererseits war es gar nicht das Verfahren, das ihr die meisten Sorgen machte.
Leandro hatte von ihren Jugendstrafen gewusst, weil irgendein Polizist den Mund aufgemacht hatte. Wie wahrscheinlich war es, dass John ebenfalls davon erfuhr? Wenn er irgendwann feststellte, dass sie ihn angelogen hatte ganz gleich, in welcher Hinsicht -, würde er ihr nie wieder auch nur ein einziges Wort glauben.
»John?«
Er sah sie an.
»Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss.«
Sie stellte erstaunt fest, dass ihre Hände zitterten. Sie schloss einen Moment lang die Augen und versuchte, sich einigermaßen zu fassen. »Als wir durch den Wald gingen, habe ich dir gesagt, dass ich nicht vorbestraft bin ...«
Seine Augen glitzerten überrascht, dann kniff er sie misstrauisch zusammen.
»Es ist sehr lange her«, sagte sie schnell. »Jugendstrafen. Fünf oder sechs Verhaftungen - ich weiß es gar nicht mehr genau. Aber seitdem war nichts mehr. Ich schwöre es bei Gott.«
Wieder änderte sich sein Gesichtsausdruck und zeigte eine Regung, von der sie gehofft hatte, sie endgültig zerstreut zu haben: Zweifel. Das machte sie fix und fertig.
»Warum hast du mir vorher nichts davon gesagt?«, fragte er streng.
»Weil ich Angst davor hatte, du könntest glauben, ich hätte mich seitdem unmöglich ändern können.« Sie bemühte sich, mit gleichmäßiger und sicherer Stimme zu sprechen, was ihr jedoch gründlich misslang. »Ich dachte, wenn ich dir sage, dass ich vorbestraft bin, weswegen auch immer, würde ich auf jeden Fall im Gefängnis landen. Aber ich bin wirklich ein anderer Mensch geworden. Auch wenn ich als Jugendliche ein paarmal wegen Laden- und Autodiebstahl geschnappt wurde, heißt das noch lange nicht, dass ich heute zu einem bewaffneten Raubüberfall fähig wäre.«
»Laden- und Autodiebstahl? War das alles?«
»Nun ja ... vielleicht auch ein bisschen Vandalismus. Und öffentlicher Alkoholkonsum. Deswegen wurde ich nur ein einziges Mal verhaftet, und ich glaube, der Polizist hätte mich sogar laufen lassen, wenn ich ihm kein Bier über die Schuhe gekippt hätte. Aber das war alles, John. Ich schwöre es.«
»Du hast einem Polizisten Bier über die Schuhe gekippt?«
»Es war Light-Bier.«
»Mein Gott, Renee!« Er schlug sich die Hände vors Gesicht und stieß langsam den Atem aus. Dann erhob er sich vom Bett. Sie griff hastig nach seinem Arm, klammerte sich verzweifelt daran fest und hoffte, dass er sie nicht allein ließ.
»Ich war ein Kind, als ich diese Dummheiten angestellt habe, John. Ein dummer, vom rechten Weg abgekommener Teenager, der sich einen Scheißdreck dafür interessierte ...«
»Nur ein dummer Teenager? Was glaubst du, woher die erwachsenen Verbrecher kommen, Renee? Sie alle haben als dumme Teenager angefangen.«
»Ich weiß, dass ich dich belogen habe. Aber ich werde es nie wieder tun. Niemals! Bitte, lass nicht zu, dass wegen dieser Sache alles von vorn anfängt!«
Er schnaufte angewidert.
»Ich muss dir noch mehr erzählen. Bitte hör mir zu.«
Er starrte auf seine Hände. Dann auf die Wand. Irgendwohin, nur nicht auf sie. Aber wenigstens verließ er nicht den Raum.
»Als ich siebzehn war«, fuhr sie fort, »wurde ich geschnappt, wie ich mit meinem Freund in einem Auto herumfuhr, das er gestohlen hatte. Der Richter verurteilte
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