Ein Kuss und Schluss
Kautionsflüchtling anstellen sollten, wenn sie einem begegneten.
Sie sah auf die Uhr. Gerade mal eine Stunde war vergangen, seit sie John ans Bett gefesselt zurückgelassen hatte.
Gefesselt und nackt.
Nein. Denk nicht daran, dass John nackt ist! Denk jetzt an Geographie!
Vielleicht sollte sie nach Arizona fahren, ihr Haar schwarz färben und sich unter einen Indianerstamm mischen. Oder nach New York, wo sich niemand groß über einen bewaffneten Raubüberfall aufregte - weil so etwas dort ein völlig alltägliches Ereignis war. Oder nach San Francisco. Dort waren alle so ausgeflippt, dass eine Frau, die sich der Verhaftung wegen eines Raubüberfalls entzogen hatte, völlig uninteressant erscheinen musste.
Oder sie machte sich doch noch ein paar Gedanken über John.
Sie schloss kurz die Augen und stellte sich vor, wie er im Bett saß und tobte, wie nur er toben konnte. Und nachdachte, wie dumm er gewesen war, dass er ihr auch nur eine Sekunde geglaubt hatte.
Wie er dachte, dass sie schuldig sein musste, weil sie sonst nicht davongelaufen wäre.
Renee hielt sich verzweifelt am Lenkrad fest, während ihr Magen rebellierte und sie sich wünschte, es hätte eine Möglichkeit gegeben, ihn zu verlassen, ohne dass er von ihrer Schuld überzeugt war. Von nun an war sie für ihn nicht mehr die Frau, mit der er eine wunderbare Nacht verbracht hatte, sondern die Verbrecherin, der er wider besseres Wissen geholfen hatte.
Sie öffnete blinzelnd die Augen und kratzte ihren letzten Rest Entschlossenheit zusammen. Sie musste von hier verschwinden, weil Leandro ihr früher oder später wieder auf den Fersen wäre. Vorher war er nur wütend auf sie gewesen, jetzt würde er wie ein Berserker rasen.
Aber wahrscheinlich war seine Raserei nur halb so schlimm wie das, was John empfand.
Sie konnte jedoch nichts dagegen tun. Wilde, heiße Erinnerungen an die Stunden, die sie in der vergangenen Nacht gemeinsam verbracht hatten, überfluteten ihr Bewusstsein und ließen ihr einen warmen Schauder über den Rücken laufen, erregend wie eine erotische Berührung. Sie verschränkte die Arme über dem Lenkrad, lehnte den Kopf dagegen und strengte sich an, die Erinnerungen zu verdrängen.
Unmöglich.
Bald würde sie Sandy anrufen, die dann hinüberging und John befreite. Diese Schmach vor der Familie würde er nie überwinden. Niemals. Aber es half auch nicht viel, wenn Renee stattdessen den Notruf wählte. Bei der Feuerwehr oder wer immer anrücken würde, gab es bestimmt jemanden, der ihn kannte oder jemanden kannte, der ihn kannte. Er wäre in jedem Fall das Gespött der Stadt.
Du oder er.
Langsam hob sie den Kopf, erstaunt, dass es auf diese einfache Entscheidung hinauslief. Oder?
Sie konnte zu ihm zurückgehen.
Genauso schnell, wie ihr der Gedanke kam, verdrängte sie ihn wieder. Wenn der schlimmste Fall eintrat - wenn John sie ins Gefängnis brachte und sie wegen bewaffneten Raubüberfalls verurteilt wurde -, wäre ihr Leben vorbei.
Aber wenn sie weglief, würde sie sich für den Rest ihres Lebens immer wieder umdrehen müssen.
Sie würde so oder so ein Leben in Gefangenschaft führen.
Der Motor brummte leise und wartete darauf, dass sie weiterfuhr, aber in ihrem Kopf herrschte ein solches Chaos, dass sie einfach keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ihr ganzes Leben schien im Zeitraffer vor ihrem geistigen Auge abzulaufen, und sie fragte sich, warum plötzlich alles zerstört worden war, obwohl sie sich die ganzen Jahre bemüht hatte, alles richtig zu machen. Sie sah die langen Tage in der Jugendstrafanstalt. Sie sah die spöttischen Gesichter der schrecklichen Insassen, die ihr genüsslich die Tatsachen des Lebens hinter Gittern schilderten. Sie sah eine endlose Strecke auf der Interstate vor sich, ohne ein freundliches Gesicht weit und breit.
Dann sah sie Johns Gesicht, der sie bat, nicht zu gehen. Der sie anflehte, ihm zu vertrauen.
Wieder ließ sie den Kopf auf das Lenkrad fallen, überwältigt von den Gefühlen, die sie von allen Seiten bestürmten. Sie musste sich entscheiden, wohin ihr weiterer Weg sie führen sollte. Jetzt.
Und nach dieser Entscheidung würde es kein Zurück mehr geben.
John hatte gedacht, dass er sich nie mit der Erfahrung auseinander setzen musste, als Gefangener Handschellen zu tragen. Es war eine Erfahrung, die er nicht sehr gut bewältigte.
In den ersten fünf Minuten, nachdem Renee gegangen war, hatte er alles zerfetzt und zerrissen, was sich in Griffweite befunden hatte. Aber nichts
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