Ein Kuss und Schluss
von fünf Sekunden um dreißig Zentimeter wachsen lassen konnte, wie glaubwürdig war dann ihre Einschätzung der Schuhgröße? Außerdem war Renees modischer Geschmack eher dezent und kam ohne Tierfellmuster aus, obwohl man sich natürlich verkleiden konnte, wenn man einen Raubüberfall plante. Es war nicht ungewöhnlich, sich dazu eine auffällige Garderobe auszusuchen, um die Sachen anschließend verschwinden zu lassen und in normaler Kleidung weiterzuspazieren.
»Und Handschuhe. Schwarze Handschuhe. Ach ja! Ihre Ohrringe! Riesige baumelnde Dinger, die wie Regenbogen aussahen. Knallbunte Farben zum Leopardenmuster!« Trudys Gesicht wurde runzlig wie eine Rosine. »In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so etwas Hässliches gesehen.«
»Sie müssen wirklich scharfe Augen haben, dass Ihnen all diese Einzelheiten aufgefallen sind«, sagte er zu Trudy.
Wieder kicherte die alte Lady. »Nein, eigentlich nicht. Aber selbst ein Blinder hätte diese Sachen nicht übersehen können.« Sie beugte sich zu John herüber und senkte die Stimme. »Ich hoffe, es bleibt unter uns, aber in letzter Zeit hat sich mein grauer Star verstärkt. Alles wird an den Rändern etwas verschwommen.«
John horchte auf. Die Frau, die Renee identifiziert hatte, erzählte ihm, dass sie halbblind war? »Aber in der Zeitung stand, dass Sie die Täterin eindeutig wiedererkannt hätten.«
Sie wedelte mit einer Hand. »Das war ein Kinderspiel, als ich die Frauen bei der Gegenüberstellung sah, obwohl keine von ihnen diese hässlichen Klamotten getragen hat. Ich musste mir nur die größte Blondine heraussuchen.«
John konnte es nicht fassen. Selbst der dümmste Verteidiger hätte die Aussagen dieser Frau in kürzester Zeit fragwürdig erscheinen lassen.
»Ziemlich gerissen, was?«, sagte Ahmed mit einem bewundernden Lächeln. »Sie hat nämlich genau die Richtige herausgesucht.«
»Ja«, bestätigte Trudy. »Später habe ich erfahren, dass es die Frau war, die sie festgenommen hatten. Sie haben bei ihr die Waffe, mit der sie auf mich geschossen hat, und mein Geld gefunden. Bin ich gut oder nicht?«
Plötzlich kam ihm die eindeutige Beweislage in Renees Fall gar nicht mehr so unumstößlich vor. Er hatte nur zwei Minuten lang mit der Hauptzeugin plaudern müssen, um zur Schlussfolgerung zu gelangen, dass sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Warum hatte der Polizist, der den Fall bearbeitete, nichts davon bemerkt?
»Ich habe ein paar Freunde, die hier in der Gegend bei der Polizei arbeiten«, sagte John. »Erinnern Sie sich zufällig an den Namen des Mannes, der nach dem Raubüberfall Ihre Aussage aufgenommen hat?«
Trudys Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. »Ich glaube, er fing mit B an. Borstad, Botsdorf ...«
Oh Gott! Bloß nicht! »Botstein?«
»Ja, der war es! Ein richtig netter Kerl. Sie kennen ihn?«
»Ja. Der gute alte Botstein.«
Er kannte ihn wirklich. Leo Botstein war ein Kollege aus dem Revier Süd, der seit mindestens dreißig Jahren die Tage bis zu seiner Pensionierung zählte, und seit mindestens fünf Jahren hatte er während des Dienstes kaum einen Handschlag getan. Aber jetzt hatte er es endlich geschafft. Wenn John sich richtig erinnerte, hatte seine Pensionierungsfeier gestern Abend stattgefunden.
»He!«, rief Trudy plötzlich. »Ihr Bengel da drüben! In den Zeitschriften wird nur geblättert, wenn ihr sie auch kaufen wollt!«
John drehte sich zu den zwei Jugendlichen am Zeitschriftenständer um. Sie trugen abgewetzte Jeans in Übergröße und verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappen. Sie gaben sich alle Mühe, im Ghetto-Stil rüberzukommen. Der Kleinere der beiden schoss einen verächtlichen Blick in Trudy s Richtung ab.
»Eh, zisch ab, alte Mumie! Wir gucken uns an, was wir wollen!«
Trudy griff mit einer runzligen Hand unter ihren Kittel und zog etwas aus dem Bund ihrer rosafarbenen Polyesterstretchhose. Etwas, das verdächtig nach einer halbautomatischen Pistole aussah. Sie hielt sie mit beiden Händen und zielte damit genau auf den Jungen.
»Okay, du kleiner Rotzkerl«, sagte sie. »Erklär mir noch mal, wer hier eine alte Mumie ist!«
Der Junge riss die Augen auf. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass eine Frau, die kaum größer als eine Trollpuppe war, mit genügend Feuerkraft ausgestattet war, um ihm den Kopf wegzupusten. Er schlug seinem Kumpel auf die Schulter, riss die Tür auf und zerrte ihn hastig nach draußen. Trudy steckte die Waffe zurück. Ahmed sah sie mit
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