Ein Kuss unter dem Mistelzweig
Flusses.
Während sie mit Patrick den Hügel hinaufstieg, dachte sie an die Zeit vor beinahe zehn Jahren zurück, als sie versucht hatte, ihren Dad zu sehen. Damals hatte sie immer noch daran geglaubt, dass sie alles schon wieder in den Griff kriegen würden.
An jenem Heiligabend klammerte sich Laurie an ihren Regenschirm und lief eine ihr unbekannte Straße in West London hinunter. Fest entschlossen hatte sie die Adresse angesteuert, die sie im Internet gefunden hatte. Als sie an der großen Doppelhaushälfte vorbeiging, wurde ihr allmählich die enorme Bedeutung ihres Vorhabens bewusst: Sie würde ihren Vater wiedersehen, nachdem sie jahrelang kein Wort miteinander gewechselt hatten. Nachdem er ihre Mum verlassen hatte, als Laurie dreizehn Jahre alt war, hatte sie sich geschworen, dass dieser Tag nie kommen würde. Doch mit Mitte zwanzig hatte Laurie angefangen zu hoffen. Sie hatte in fremde Fenster geschaut und die großen Weihnachtsbäume in Wohnzimmern mit hohen Decken gesehen und sofort eine brennende Eifersucht verspürt. Das waren die Häuser, in denen sie immer hatte leben wollen. Häuser wie Rachels Familienhaus.
Als Laurie Nummer sechsundfünfzig erreichte, holte sie tief Luft und klingelte. Als sich jedoch die Tür öffnete, stand nicht etwa ihr Dad vor ihr, sondern ein etwa zehnjähriger Junge, der sie anstarrte.
»Ist Duncan Greenaway zu Hause?«, fragte Laurie und nahm dabei allen Mut zusammen.
»Dad!«, rief der Junge über seine Schulter hinweg nach hinten. »Hier will dich eine Frau sprechen!«
Eine Frau um die fünfundzwanzig herum – das gleiche Alter, in dem Laurie damals gewesen war – mit dunkelrotem Haar trat in den Flur. »Er hilft Mum mit dem Auto, Andrew«, erklärte sie dem Jungen. Dann sah sie zu Laurie auf und lächelte. »Tut mir leid, aber mein Dad ist im Augenblick beschäftigt. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
Als Lauries und ihre Blicke sich trafen, erkannte Laurie ihre eigenen Gesichtszüge in denen der anderen Frau.
»Du meine Güte, es regnet ja in Strömen«, fuhr die Frau fort. »Möchten Sie nicht hereinkommen?«
Anstatt Lauries dunkler Augen hatte die Frau vor ihr allerdings die klaren, blauen Augen ihres Dads.
»Nein«, erwiderte Laurie, als ein großer Schmerz in ihrer Brust anschwoll. »Nein, ich möchte nicht bleiben.« Eine Woge großer Scham rollte über sie hinweg. »Aber trotzdem vielen Dank.« Laurie drehte sich um und ging rasch davon.
»So, da sind wir«, verkündete Patrick. »Wir haben es geschafft!« Er legte seinen Arm um Lauries Schultern, als sie die Ruine der Windmühle erreichten. Laurie hatte derweil mit den Tränen zu kämpfen, die die alten Erinnerungen ausgelöst hatten.
»Und dort«, fuhr Patrick fort, »befindet sich mein Heimatdorf. Daheim ist daheim, nicht wahr?«
K apitel 22
Mittwoch, 13. Dezember
»Was soll das alles?«, fragte Lily und lachte, als sie mit der Hand den gepunkteten Schal abtastete, mit dem ihre Augen verbunden waren. »Was hast du vor, dass du einer alten Frau hier die Augen verbinden musst?«
Sanft führte Jay sie in ihre Wohnung, und als er den Knoten löste und der Schal herunterfiel, öffnete Lily die Augen und ließ erst einmal erstaunt alles auf sich wirken.
Lily schwieg.
Der Augenblick schien eine Ewigkeit zu dauern – Rachel fragte sich schon, ob sie wohl das Falsche getan hatten; immerhin waren sie ohne zu fragen in ihre Wohnung gegangen und hatten dort einiges verändert. Zak klammerte sich an Lilys Hand und wartete auf eine Reaktion. Lily starrte gerade das Banner an, das er für sie gemalt hatte.
Dann schweifte ihr Blick vom Banner zur Küche und zu den Wänden im Wohnzimmer, die beschädigt gewesen und nun frisch tapeziert und gestrichen waren. Ihr Blick wanderte zum Boden, wo das Linoleum gegen neue Fliesen ausgetauscht worden war. Außerdem lag im Wohnzimmer ein neuer leuchtend bunter Teppich. Als sie schließlich die neuen Regale entdeckte, schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Du meine Güte!«, rief sie. »Ach, du meine Güte!« Sie biss sich auf die Lippe und sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen.
Als sie dann wieder zum Banner hochschaute, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Hast du das gemalt, mein Sohn?«, fragte sie Zak und deutete nach oben. Er nickte. Sie breitete die Arme aus, woraufhin er zu ihr stürzte, um sich von ihr umarmen zu lassen. Mit dem Arm immer noch um seine Schultern, schaute Lily zu Rachel, Milly, Jay, Sean und Nikki
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