Ein Kuss vor Mitternacht
Verwandten gewiss dankbar, dass Sie bei ihnen wohnen dürfen, aber ich kann mir nicht denken, dass Sie … sehr glücklich bei diesen Leuten sind.“
Constance warf ihr einen kläglichen Blick zu. „Merkt man mir das so deutlich an?“
„Zwischen Ihrer Welt und der Ihrer Verwandten bestehen himmelweite Unterschiede“, erklärte Francesca in ihrer freimütigen Art. „Man kann kaum erwarten, mit Leuten, mit denen man nichts gemeinsam hat, ein glückliches Leben zu führen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Ihre Tante und Ihr Onkel Sie nicht gut behandeln. Sie erzählten mir gestern, dass Sie wegen der Krankheit Ihres Vaters nicht in die Gesellschaft eingeführt wurden. Damit haben Sie sich als pflichtbewusste Tochter erwiesen. Wie alt waren Sie, als Ihr Vater starb und Ihre Verwandten Sie bei sich aufnahmen?“
„Zweiundzwanzig. Zu alt für ein Debüt.“
„Nicht zu alt für eine Ballsaison“, erwiderte Francesca sachlich. „Hätten Ihre Verwandten sich Ihnen gegenüber richtig verhalten, hätte man Ihnen eine Saison ermöglicht. Das wäre gewiss im Sinne Ihres Vaters gewesen, und Sie hatten sich dieses Vergnügen verdient. Na schön, es stimmt, Sie waren älter als die kichernden Backfische von siebzehn und achtzehn, die der Königin vorgestellt werden. Aber im Grunde genommen ist diese kostspielige Präsentation nicht unbedingt nötig, und viele junge Mädchen müssen darauf verzichten. Aber eine Ballsaison wäre für Sie angebracht gewesen. Sie sind nicht die Einzige, die mit zweiundzwanzig noch nicht verheiratet war. Ich sollte nicht über Ihre Verwandten lästern, aber ich muss sagen, dass Ihre Tante und Ihr Onkel sehr selbstsüchtig sind. Sie sparten sich die Ausgaben für eine Ballsaison und betrachten Sie wie eine Dienstbotin. Zweifellos mussten Sie auf ihre Töchter aufpassen und Arbeiten verrichten, die sonst keiner tun wollte. Und nun, da ihre Töchter debütieren, gönnt Ihre Tante Ihnen nicht einmal, dass auch Sie sich auf diesen Bällen amüsieren, sondern drängt Sie in die Rolle der Gouvernante und erwartet von Ihnen, fade Kleider zu tragen und Ihr Haar unter einer abscheulichen Haube zu verstecken.“
Sie musterte Constance prüfend, ehe sie fortfuhr: „Natürlich ist es der Wunsch Ihrer Tante, dass Sie so unscheinbar wirken wie möglich, um den reizlosen Gänschen, die ihre Töchter sind, nicht die Chancen zu verderben. Trotzdem stellen Sie Ihre Cousinen in den Schatten.“
Constance rutschte verlegen auf ihrem Sitz hin und her. Lady Haughstons Schilderung ihres Lebens bei ihren Verwandten spiegelte auf verblüffende Weise Constances Gedanken wider, die sie häufig quälten. Seit Jahren nutzte Tante Blanche das Pflichtbewusstsein und die Gutmütigkeit ihrer Nichte weidlich aus.
„Sie können doch nicht ernsthaft den Wunsch haben, Ihr Leben weiterhin so zu fristen!“, rief Francesca. „Sie scheinen mir eine ziemlich freiheitsliebende und intelligente junge Frau zu sein. Träumen Sie nicht davon, ein eigenständiges Leben in einem eigenen Haus zu führen? Mit einem Ehemann und Kindern?“
Constances Gedanken schweiften zu den Tagen ihres kurzen Glücks mit Gareth. Damals, vor vielen Jahren, hatte sie geglaubt, ein solches Leben könne ihr beschieden sein.
„Ich hatte nie den Wunsch zu heiraten, um eine gute Position im Leben zu erhalten“, erklärte Constance mit ruhiger Bestimmtheit. „Sie mögen mich für töricht halten, aber ich würde nur aus Liebe heiraten.“
Constance vermochte den Blick in Lady Haughstons Augen nicht zu deuten, der lange auf ihr ruhte. „Ich hoffe sehr, Sie finden diese Liebe“, sagte Francesca nach einer Weile ernsthaft. „Wie dem auch sei, die Ehe verschafft einer Frau ein gewisses Maß an Unabhängigkeit. Dadurch erlangt sie einen festen Platz im Leben, eine Position, die sie im Elternhaus niemals findet, mag es noch so glücklich und behütet sein. Eine Ehegemeinschaft ist nicht zu vergleichen mit einem Leben unter der Fuchtel von selbstsüchtigen und herrischen Verwandten.“
„Ich weiß“, bestätigte Constance leise. Sie kannte diese Umstände aus eigener Erfahrung gewiss besser als die schöne Lady Haughston. „Aber ich kann mich nicht ein Leben lang an einen Mann binden, den ich nicht liebe.“
Francesca schaute zu Boden und schwieg lange, bevor sie wieder das Wort ergriff. „Aber wer behauptet denn“, sagte sie leichthin, „es sei ausgeschlossen, in dieser Saison dem Mann zu begegnen, den Sie lieben? Niemand zwingt Sie,
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