Ein Kuss vor Mitternacht
über die Menüfolge des Dinners sprechen.“ Mit einem allgemeinen Nicken verließ sie das Zimmer.
„Was für eine distinguierte Dame“, bemerkte Tante Blanche. „Eine wunderbare Frau.“
„Ja, die Ärmste! Sie hat ein schweres Schicksal zu tragen“, pflichtete Lady Rutherford ihr bei.
„Tatsächlich?“ Tante Blanche wandte sich ihr mit neugierig blitzenden Augen zu.
Lady Rutherford bot ihr die Gelegenheit, eine Klatschgeschichte zu erfahren, und hatte damit die einzig erfolgreiche Methode gefunden, Tante Blanche zum Schweigen zu bringen, überlegte Constance.
„Sie musste viele Tragödien in ihrem Leben durchstehen“, begann Lady Rutherford. „Ihre jüngste Tochter verstarb vor etwa zehn Jahren im zarten Alter von sechszehn Jahren. Und vor zwei Jahren kam ihr ältester Sohn und Erbe Terence bei einem Sturz vom Pferd durch einen Genickbruch ums Leben. Sie und natürlich auch Lord Selbrooke waren außer sich vor Schmerz. Terence war der Augapfel seiner Eltern. Ein umwerfend gut aussehender Mann. Würde er noch leben, wäre er natürlich derjenige, den Muriel …“ Sie schüttelte seufzend den Kopf. „Aber das gehört nicht hierher. Jedenfalls lebt er nicht mehr, und Dominic ist der Nächste in der Erbfolge.“
Lady Rutherford ließ den Blick über ihr andächtig lauschendes Publikum schweifen, und Constance konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, ihre stechenden Augen verweilten bedeutungsvoll auf ihr.
„Ich fürchte, Lord Leighton ist eine ziemliche Enttäuschung für seine Eltern“, erklärte sie und legte erneut eine Pause ein.
Constance, die vermutete, Lady Rutherford warte auf die Frage, warum er eine Enttäuschung sei, schwieg beharrlich, um die Klatschbase nicht zu ermuntern, weiterhin schlecht über Dominic zu reden.
Leider hatte sie nicht mit ihrer Tante gerechnet, die sich die Sensationsgeschichte keinesfalls entgehen lassen wollte und prompt die Frage stellte: „In welcher Beziehung?“
„Ach, das ist eine lange Geschichte. Natürlich war kaum zu erwarten, dass er sich mit seinem ältesten Bruder in irgendeiner Weise messen konnte. Terence war ein hochgewachsener Mann, der die meisten Herren um Haupteslänge überragte, ein ausgezeichneter Reiter und athletischer Sportsmann und außerdem schön wie ein griechischer Gott. Er erreichte alles, was er sich zum Ziel gesetzt hatte.“
„Er muss ja ein wahrer Ausbund an Tugend gewesen sein“, bemerkte Constance trocken. Das überschwängliche Lob dieser Frau weckte eine absurde Abneigung gegen den verstorbenen Terence in ihr.
„Ja, das war er“, betonte Lady Rutherford schwärmerisch. „Dominic kann ihm in keiner Hinsicht das Wasser reichen. Dennoch hätte man Besseres von ihm erwarten können. Spielhöllen, Trinkgelage, Faustkämpfe – Leighton frönt all diesen frevelhaften Lastern in London. Und es heißt, er sei ein Schürzenjäger.“ Wieder maß sie Constance mit einem vielsagenden Blick. „Er macht jungen Mädchen den Hof, spielt ihnen vor, er habe ernste Absichten, verführt sie und lässt die armen Dinger dann fallen.“
Constance krümmte die Finger, bis ihre Nägel sich ins Fleisch ihrer Handfläche bohrten. Lady Rutherfords Worte waren anscheinend direkt an sie gerichtet und als Warnung gedacht, was Lord Leighton ihr antun würde, wenn sie sich mit ihm einließe. Offenbar zählte sie Constance zu den Frauen, die der Frauenheld verführte und fallen ließ. Constance zeigte keinerlei Regung, weder Empörung noch Zweifel. Sie weigerte sich, Lady Rutherfords Bericht über Dominics lasterhaften Lebenswandel Glauben zu schenken. Sie war der Überzeugung, die Frau verbreitete nur aus Gehässigkeit böse Gerüchte über ihn.
Tante Blanche hingegen war das beste Publikum, das Lady Rutherford sich wünschen konnte. Sie holte tief und hörbar Atem. „Nein! Wie schrecklich!“, entfuhr es ihr in höchster Entrüstung. „Dabei wirkt er so sympathisch und wohlerzogen.“
Achselzuckend nahm Lady Rutherford den Faden wieder auf und senkte verschwörerisch die Stimme. „Der Alkohol war schon immer sein Verderben. Schon als junger Mann. Er war sogar beim Begräbnis seiner kleinen Schwester betrunken.“
„Nein!“ Tante Blanches Hand flog an ihren Busen.
„Aber ja.“ Lady Rutherford nickte heftig. „Ich kann es bezeugen. Er war betrunken und sehr laut. Es war eine Schande. Er prügelte sich sogar mit Terence, als der Gute versuchte, ihn vom offenen Grab wegzuzerren. Es war eine schrecklich peinliche Szene für Lord und
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