Ein Kuss vor Mitternacht
Leighton unter. „Sie scheinen sich ja tödlich gelangweilt zu haben bei den Ausführungen des Pfarrers, wenn Sie bereit waren, sich hierher verschleppen zu lassen und die letzten Ruhestätten Ihrer Vorfahren zu besichtigen. Nun ja, Grabstätten bedeutender Familien üben offenbar auf manche Leute einen gewissen Reiz aus.“
Sie bedachte Constance mit einem hochnäsigen Blick, die den tieferen Sinn von Muriels Worten begriff: Constance, eine Frau von niedrigem Stand, brachte einer Adelsfamilie wie den Fitz Alans große Ehrfurcht entgegen, während Muriel, die der gleichen Gesellschaftsschicht angehörte wie Lord Leighton, eine solche Haltung selbstredend nicht nötig hatte. Constance umklammerte ihren Sonnenschirm fester und hatte Mühe, ihren brennenden Wunsch zu bezähmen, Muriel den Griff über den Kopf zu schlagen.
„Während Ihnen meine Familie völlig gleichgültig ist, nicht wahr, Miss Rutherford?“, fragte Leighton mit ironischem Gesichtsausdruck.
„Wie bitte?“ Muriel wirkte verdutzt, ihre eingefallenen, bleichen Wangen verfärbten sich fleckig rot, und Constance stellte mit Genugtuung fest, dass sie aus der Fassung geraten war. „Aber nein, natürlich nicht, ich wollte nicht …“Sie suchte fieberhaft nach einer rettenden Idee, um ihre Worte zurückzunehmen.
Constance betrachtete sie sinnend, verspürte aber nicht die geringste Lust, ihr beizustehen. Doch als das Schweigen sich peinlich in die Länge zog, siegte ihr gutes Herz.
„Wahrscheinlich kennt Miss Rutherford Ihre Familie so gut, dass Sie keinerlei Erzählungen mehr bedarf, Mylord“, ergriff sie lächelnd das Wort. „Nur eine Fremde wie ich interessiert sich für die wechselvolle Geschichte Ihrer Ahnen.“
Der Viscount warf Constance einen belustigten Blick zu. „Gut pariert, Miss Woodley“, murmelte er.
Muriel, weit davon entfernt, Constance dankbar für ihre Schützenhilfe zu sein, starrte sie an. „Ich finde es an der Zeit, nach Redfields zurückzukehren, Dominic.“
„Womit Sie zweifellos recht haben“, entgegnete Lord Leighton milde und nickte Constance und Mr. Willoughby zu, der an ihre Seite getreten war. „Miss Woodley. Willoughby.“
Damit machte er kehrt und ging zurück zur Kirche, Muriels Hand lag in seiner Armbeuge. Willoughby sah dem Paar nach und wandte sich an Constance.
„Merkwürdige Person“, stellte er lächelnd fest. „Mein Kompliment! Sie haben fabelhaft reagiert.“
„Es war eine unangenehme Situation“, meinte Constance achselzuckend. „Vielleicht hatte Miss Rutherford nicht die Absicht, mich zu kränken.“
„Vielleicht nicht.“ Er wiegte den Kopf bedächtig hin und her. „Eigentlich ist jeder Satz, den sie von sich gibt, eine Kränkung, und man fragt sich manchmal, ob sie überhaupt weiß, was sie sagt. Mir hat sie mehr oder weniger zu verstehen gegeben, dass ich mich glücklich schätzen dürfe, sie über den Friedhof zu begleiten. Eigentlich stünde anderen dieses Vergnügen viel eher zu. Womit sie vermutlich Lord Leighton meinte, der ja mit Ihnen nach draußen verschwunden war.“
Constance lachte leise. „Nun, dann würde ich sagen, auch Sie haben fabelhaft reagiert, indem Sie ihr den Arm reichten.“
Er lächelte gewitzt. „Ehrlich gestanden, erklärte ich mich nur bereit, Miss Rutherford zu begleiten, da Sie bereits vergeben waren.“ Er bot Constance seinen Arm. „Erweisen Sie mir jetzt die Ehre?“
Constance hakte sich bei ihm unter und fand es irgendwie ungerecht, dass sie in Mr. Willoughbys Nähe nicht das geringste Prickeln verspürte.
Die Heimfahrt nach Redfields verlief ohne unliebsame Zwischenfälle. Mr. Willoughby ritt den ganzen Weg neben dem Landauer her, und nach einer Weile gesellte sich auch Margaret, die ebenfalls ritt, dazu. Constance weigerte sich, auch nur einen einzigen Blick in Lord Leightons Richtung zu werfen, bemerkte aber durchaus, dass er die ganze Zeit an Miss Rutherfords Seite blieb.
Im Haus angekommen, lief Constance sogleich nach oben, um nach Francesca zu sehen. Sie schlief, aber Maisie berichtete, Lady Haughston fühle sich keineswegs besser, im Gegenteil, nun habe sich auch noch Fieber eingestellt.
Constance versuchte Maisie zu überreden, sich den Abend freizunehmen, aber die Zofe lehnte das Angebot zunächst ab. Erst nachdem Constance ihr vorhielt, dass sie etwas essen müsse und ein paar Stunden Schlaf brauche, wenn sie die Absicht habe, die Nacht auf einem Notbett in Lady Haughstons Zimmer zu verbringen, willigte Maisie ein und überließ
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