Ein Kuss vor Mitternacht
schlenderten gemächlich an den hohen, festlich erleuchteten Fenstern und Glastüren vorbei.
Am Rande der Dunkelheit hinter dem letzten beleuchteten Fenster traten sie an die Steinbalustrade und sahen in den Garten hinaus, von dem süßer Rosenduft heraufwehte. Bäume und Sträucher waren in silbriges Licht getaucht. Constance betrachtete bewundernd den Vollmond, dessen Licht weicher und einen Hauch wärmer wirkte als das grelle Glitzern der Sterne.
Der laue Nachtwind strich ihr über Nacken und Schultern und spielte mit den zarten Löckchen, die sich an ihren Wangen kringelten. Sie blickte Dominic an.
Er stand dicht neben ihr, seine Gesichtzüge zeichneten sich in scharfen Konturen aus Hell und Dunkel ab. Selbst im schwachen Lichtschein konnte Constance das Verlangen in seinen Augen erkennen. Sie dachte an die Küsse, die sie tags zuvor im Garten getauscht hatten, an seine Hände, mit denen er sie gestreichelt und Gefühle in ihr wachgerufen hatte, die sie nicht gekannt hatte. Gefühle, die auch der Mann, den sie einst glaubte zu lieben, nicht in ihr ausgelöst hatte. Unwillkürlich fragte sie sich, ob die Empfindungen, die sie in Dominics Nähe zu überwältigen drohten, etwas Mächtigeres bedeuteten als körperliche Anziehungskraft. War es möglich, dass sie im Begriff war, sich in Dominic zu verlieben? Oder hatte sie diesen unheilvollen Schritt bereits getan?
Sie wünschte, er würde sie küssen, mochte es noch so gefährlich und verboten sein. Sie wollte nichts mehr als die Leidenschaft wieder spüren, die sie bei seinen Küssen durchströmt hatte. Unwillkürlich schossen ihr Gedanken an ihr späteres Leben durch den Sinn. In wenigen Tagen würde sie aus Redfields abreisen, in wenigen Wochen war ihre Saison vorüber. Wie oft würde sie Dominic in London noch sehen? Und wenn ihr Aufenthalt in London beendet war, war alles vorbei.
Sollte sie den Rest ihres Leben verbringen, ohne dass noch einmal seine Lippen die ihren berührten? Würde sie die Erfüllung der Leidenschaft niemals kennenlernen? Würde sie älter werden, Paaren begegnen, die glücklich verheiratet waren, Kinder großzogen, ohne dieses Glück je selbst erlebt zu haben? Ihre Zukunft schien ihr im Moment unendlich düster und trostlos zu sein.
Und dann keimte ein Gedanke in ihr auf. Wäre es nicht besser, die Tiefen der Leidenschaft wenigstens einmal auszukosten? Wenn sie schon Erinnerungen sammelte, wieso sollte sie dann auf das schönste Erlebnis verzichten?
Sie wollte Dominic küssen, ihm in die Arme sinken, mit ihm verschmelzen. Sie wollte all die Freuden entdecken, die sein sehniger Körper ihr bieten konnte; sie wollte alles erfahren, was ihr eigener Körper empfinden konnte. Es war ein durchaus sündiger Wunsch, aber sie verzehrte sich nahezu danach, mit einem Mann das Bett zu teilen – nein, nicht mit irgendeinem Mann, nur mit Dominic. Danach sehnte sie sich mit jeder Faser, so sehr, dass sie innerlich zu zittern begann. Und sie wusste, wenn sie sich diese Freuden versagte, würde sie es ihr ganzes Leben bereuen.
Und wieder einmal zog Constance in Erwägung, alle Vorsicht zu vergessen, sich über alle Konventionen hinwegzusetzen und sich ihrer Leidenschaft hinzugeben. Es war ein beängstigender und quälender Gedanke.
Offenbar ahnte Dominic etwas von dem, was in ihr vorging, denn unvermutet schloss er sie in die Arme und küsste sie zärtlich. Mit seinem weichen Mund strich er behutsam ihre Lippen entlang, bis sein Kuss immer stürmischer wurde. Zärtlich und zugleich fordernd zwang er sie dazu, ihre Lippen zu öffnen, umspielte ihre Zunge mit seiner und hielt Constance so fest, als wolle er sie nie wieder loslassen.
Die Heftigkeit seines Kusses ängstigte Constance keineswegs, sondern weckte vielmehr ein unwiderstehliches Verlangen in ihr. Sie schmiegte sich an Dominic, legte die Arme um seinen Hals und gab sich genießerisch dem Kuss hin.
Durch den Nebel ihrer Leidenschaft drangen gedämpfte Stimmen. Dominic zog Constance tiefer in den Schatten. Sie ließen voneinander ab und spähten den Gartenweg entlang, auf dem ein Pärchen leise plaudernd heranspazierte. Dominic nahm Constance bei der Hand und drängte sie tiefer ins Dunkel. Dort standen sie angespannt abwartend und beobachteten die Spaziergänger mit angehaltenem Atem.
Das Pärchen kam noch näher, verharrte eine Weile am Rande des Schattens. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor die beiden kehrtmachten und sich wieder entfernten.
Dominic wandte sich Constance zu, seine
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