Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)
Gaza-Rückzug
Um nicht in den Hintergrund gedrängt zu werden, entschloss sich Scharon, eine andere Richtung einzuschlagen. Im selben Jahr, in dem wir die Roadmap präsentierten, unterzeichneten Vertreter der israelischen und der palästinensischen Zivilgesellschaft die Genfer Vereinbarung. Dabei handelt es sich um den Entwurf eines Abkommens zur Lösung des Nahostkonflikts, der ohne den geringsten Zweifel bewies, dass zwischen vernünftigen Menschen, die guten Willens sind, eine Einigung durchaus möglich ist. Jerusalem kann vernünftig als Hauptstadt zweier Staaten dienen. Man kann eine Grenze ziehen, die es den meisten israelischen Siedlern erlaubt, zu bleiben, wo sie sind, und den Palästinensern einen lebensfähigen Staat mit zusammenhängendem Territorium gibt, dessen Größe derjenigen der 1967 besetzten Gebiete entspricht. Man kann Sicherheitsarrangements finden, die für beide Seiten akzeptabel und gegen alte sowie neue Bedrohungen wirksam sind. Sogar die hochsensible Flüchtlingsfrage kann auf eine Weise gelöst werden, die die Rechte und das Leid der Flüchtlinge anerkennt – einschließlich des Rückkehrrechts – und dennoch in ihrer Umsetzung die Zwei-Staaten-Idee nicht gefährdet. Der Konflikt kann beendet werden, und zwei Staaten für zwei Völker können friedlich nebeneinander existieren.
Durch die Genfer Vereinbarung und die Roadmap wurde Scharon in die Defensive gedrängt. Mein Eindruck war, dass ihm diese Agenda nicht gefiel und er sich nach Alternativen umsah. Zuerst versuchte er sich aus den Roadmap-Verpflichtungen herauszuwinden, indem er sie zwar akzeptierte, aber 14 Vorbehalte vorbrachte, die auf das Konzept des Parallelismus abzielten, für das wir so hartnäckig gekämpft hatten. In Washington gab es viele, die Scharon mit Freuden freie Hand ließen. Da es keinen Überwachungsmechanismus gab, dachte er gar nicht daran, die Siedlungstätigkeit auf der Westbank einzufrieren. Stattdessen beschäftigte er sich mit der Fertigstellung der Barriere, die er quer durch die Westbank errichten ließ, mit dem Rückzug aus dem Gazastreifen, der Verdichtung der Siedlungen in Jerusalem und Umgebung sowie der Gründung einer neuen Partei. Es waren kühne Züge, die den Schauplatz des Konflikts für immer verändern sollten. Aber sie brachten uns dem Frieden nicht näher.
Die Bezeichnung dessen, was Scharon bauen ließ, symbolisiert bereits den Streit darüber. Die Israelis sprechen von einem »Sicherheitszaun«, weil er dazu beitrug, die Welle von Selbstmordanschlägen zu beenden. Für die Palästinenser ist es hingegen eine »Mauer«, was es in den Städten Jerusalem, Ramallah und Bethlehem, wo die meisten Palästinenser sich täglich daran stoßen, tatsächlich ist. Ich habe das Bauwerk als Barriere bezeichnet. Wollte man es angemessen benennen, müsste man von einer Zaun-und-Mauer-Barriere sprechen. Ungeachtet der Bezeichnung war die Errichtung dieser Anlage eindeutig politisch motiviert, da sie zahlreiche illegale israelische Siedlungen an Israel anschloss, während sie den meisten Palästinensern den Zugang nach Jerusalem verwehrte und viele von ihrem eigenen Landbesitz abschnitt.
Im Jahr 2004 urteilte der Internationale Gerichtshof, dass Scharons Mauer (wie er sie bezeichnete) in dem Maß, wie sie von der Demarkationslinie von 1967 abweiche und in besetzte palästinensische Gebiete vordringe, illegal sei. Das Problem war also nicht die Barriere an sich – Israel konnte eine Mauer an seiner Grenze errichten, so wie die Vereinigten Staaten einen Zaun an ihrer Grenze zu Mexiko bauen konnten. Das Problem war ihr Verlauf auf palästinensischem Territorium. Die UN -Generalversammlung bat mich, die Schäden, welche die Mauer für Palästinenser mit sich brachte, in einem Register zu erfassen. Die Zaun-und-Mauer-Barriere wurde sowohl aus Sicherheits - als auch aus politischen Gründen errichtet. Gleiches gilt für Israels Rückzug aus dem Gazastreifen.
Als Scharon im Dezember 2003 den Rückzug aus dem Gazastreifen ankündigte, war ich zugegebenermaßen überrascht. Der Vater der Siedlungsbewegung wollte Siedler vertreiben! Berühmt war seine Feststellung: »Das Schicksal von Netzarim [einer Siedlung im Gazastreifen] ist das Schicksal von Tel Aviv.« Seinen Sinneswandel erklärte er damit, dass die palästinensische Bevölkerung rasch wachse – »in unglaublich überfüllten Flüchtlingslagern, in Armut und Elend, in Brutstätten immer weiter zunehmenden Hasses, ohne jede Hoffnung am Horizont«.
Weitere Kostenlose Bücher