Ein Leben unter Toten
Carola Finley hatte die Worte gesprochen. Sie gehörte zu denen, die immer etwas zu nörgeln hatten. Ihr Name war Edith Wiser, und trotz ihrer Meckerei war sie noch nicht bestraft worden. Das wunderte Carola Finley. Vielleicht war Edith eine Spionin, ein faules Ei, das man ihnen ins Nest gelegt hatte. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie konnte höchstens 65 sein, während die anderen meistens darüber lagen.
»Willst du noch mehr Unruhe stiften, Edith?« fragte Carola. Die Frau hob nur die Schultern, wandte sich ab und ging davon. Die Blicke der anderen Frauen verfolgten sie. Wahrscheinlich machte sich so manche ihre Gedanken, niemand sprach sie allerdings aus. Sie schauten noch einmal zum Fenster, als der Wagen wieder gestartet wurde. Er fuhr sehr schnell, als hätte der Fahrer Angst, noch länger zu warten.
Abermals flog eine Erinnerung an die Außenwelt davon. Obwohl die Fenster nicht vergittert waren, kamen sich die Frauen vor wie in einem Gefängnis. Wenn sie ausgingen, dann fast nur auf den Friedhof, um ihre toten Freundinnen zu besuchen.
Die beiden Männer trugen die Särge ins Haus. Beinahe lässig wirkte dies, und es zeugte von der Kraft, die in den beiden steckte. Blanche Everett hielt ihnen die Tür auf, damit sie mit den sperrigen Totenkisten durchkamen.
Danach waren sie nicht mehr zu sehen.
Auch die Tür wurde geschlossen. Den Frauen kam es so vor, als wäre ein Sargdeckel zugefallen.
Wahrscheinlich hätten sie gerne gesprochen, doch niemand traute sich, das erste Wort zu sagen.
Alle zuckten jedoch zusammen, als eine Klingel aufschrillte. Noch bleicher wurden die Gesichter und jemand sprach aus, was die meisten von ihnen dachten.
»Jetzt beginnt die Zeremonie…«
***
Es war wie immer, wenn jemand gestorben war und die noch lebenden Frauen der Leiche einen letzten Gruß erweisen sollten. Jede Heiminsassin mußte ihr Zimmer verlassen und in den großen Flur gehen, in dem es immer kühl war und nach Bohnerwachs roch. Dort hatten sich die Frauen an beiden kahlen Wänden aufzustellen, so daß sie ein Spalier bildeten.
Ein stummes Spalier der Angst, der Furcht, der Sorge darüber, wer die nächste von ihnen sein konnte.
Es durfte nicht gesprochen werden. Sie standen da wie Soldaten und warteten ab.
Die beklemmende Atmosphäre, die normalerweise überall lag verdichtete sich bei dieser Zeremonie noch, und das Haus wurde zu einem gespenstischen Bau, in dem kein Leben mehr zu sein schien. Die Decke war gewölbt. Nur schwaches Licht sickerte durch Fenster in den Flur, so daß der breite Mittelgang immer in einem gewissen Dämmerlicht lag und die Gestalten der wartenden Frauen für den Betrachter allmählich verschwammen.
Sie kannten die Zeremonie zwar, aber sie würden sich nie daran gewöhnen können. Immer, wenn jemand gestorben war, mußten sie sich versammeln, dem Ritual genau folgen und es nachvollziehen. Vom Ende des Ganges hörten sie Geräusche. Schritte. An der Folge und am Klang erkannten die Frauen, daß Blanche Everett kam, ohne daß sie die Frau überhaupt sahen.
Sie durchschritt den Gang.
Der Körper war aufgerichtet, ihr Rücken durchgebogen. Den Kopf hatte sie hocherhoben, die Hände lagen auf dem Rücken. Bevor sie die ersten beiden Frauen in den zwei Reihen erreicht hatte, blieb sie stehen und drehte sich um. Einen Moment wartete sie noch, bevor sie den Mund öffnete und mit hallender Stimme sagte: »Ihr könnt kommen. Schafft sie herbei, wir warten!«
Der Befehl galt den beiden Helfern, die auch die Särge ins Haus getragen hatten.
Aus dem Dämmerlicht lösten sich ihre Gestalten, und nahmen allmählich festere Umrisse an. Jede Frau konnte sehen, daß sie etwas vor sich herschoben.
Es war eine fahrbare Bahre.
Zu hören waren nur die Schritte der Männer, denn die Bahre lief auf Gummirädern, und die rollten lautlos über die dunkelroten Steine des Fußbodens.
Die Männer bewegten sich im Gleichschritt. Aus diesem Grunde klangen die Schritte wie einer, und die Echos wurden von den kahlen Wänden zurückgeworfen.
Immer deutlicher war die Bahre zu sehen. Ein einfaches weißes Gestell. Mit einer ebenfalls hellen Unterlage versehen, auf der die Tote lag. Man hatte sie mit einem Tuch abgedeckt, das auch die Füße verschwinden ließ, und nur der Kopf schaute hervor.
Ein bleiches und eingefallenes Gesicht, aus dem die Nase spitz hervorstach. Als die beiden Männer die ersten Frauen erreichten, verlangsamten sie ihre Schritte. Entsprechend senkten sie auch die Geschwindigkeit
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