Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
der Politik gewidmet. Wenn Sie zurückschauen, war es die Mühen, die Opfer wert?
1984 im Gespräch mit dem chinesischen Premierminister Zhao Ziyang, einem der Reformer um Deng Xiaoping.
© Archiv Helmut Schmidt
LEE Das hängt davon ab, worum es Ihrer Meinung nach im Leben geht. Wenn ich ein glückliches Leben hätte führen wollen, wäre ich Rechtsanwalt und Geschäftsmann geblieben. Dann wäre ich heute wesentlich reicher, als ich bin. Aber das habe ich mir nicht zum Ziel gesetzt. Ich habe mein Land in einem Zustand erlebt, den ich für schlecht hielt, und dann habe ich versucht, die Macht zu erlangen, um diesen Zustand zu verändern. Ich habe die Genugtuung erlebt, besser genährte und besser wohnende Menschen zu sehen; jeder besitzt sein eigenes Heim, jeder hat Kinder, die zur Schule gehen, wir haben einen funktionierenden Gesundheitssektor, wir haben Erholungseinrichtungen. Alles, wonach man im Leben verlangen kann. Das Problem ist, dass wir es heute als selbstverständlich voraussetzen und glauben, dass wir den Autopilot einschalten können. Ich denke nicht so, ich glaube vielmehr, dass ein allmählicher Rückschritt eintreten wird, wenn die Regierung in die falschen Hände fällt und von falschen Führern übernommen wird. Man kann mit dem Autopilot nicht Höchstgeschwindigkeit fliegen.
SCHMIDT Ich antworte auf die Frage, ob es sich gelohnt hat, ganz kurz. Es hat sich gelohnt, die Chance, reich zu werden, zu verpassen.
LEE Als politischer Führer muss man zulassen, dass andere reich werden, weil man selber gute Regierungsarbeit leistet. Ich habe das einmal dem Parteisekretär von Shenzhen, gegenüber von Hongkong, gesagt. »Wenn Sie als Führer Erfolg haben wollen«, sagte ich zu ihm, »dann denken Sie nicht an sich selbst. Schaffen Sie ein System, in dem andere Geld machen und reich werden können, während Sie ein ehrlicher Beamter und relativ arm bleiben.«
SCHMIDT Man kann ihm nur wünschen, dass er Ihren Rat beherzigt hat.
Zweite Gesprächsrunde
SCHMIDT Geht es Ihnen gut?
( LEE nickt.)
SCHMIDT Mir auch. Trotz des Jetlags.
LEE Es ist Ihr zweiter Tag, also nicht mehr so schlimm.
SCHMIDT Darf ich vorschlagen, Harry, dass wir damit beginnen, über Amerika zu sprechen? Sind Sie damit einverstanden?
LEE Ja.
SCHMIDT Das letzte, das 20. Jahrhundert ist das amerikanische Jahrhundert genannt worden. Wird das 21. Jahrhundert ein chinesisches?
LEE Nimmt man das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maßstab, ja. Im Jahr 2035 wird das chinesische BIP größer sein als das amerikanische. Nimmt man die Soft Power, die Anziehungskraft auf die Menschen, zum Maßstab, bin ich mir nicht so sicher, denn die chinesische Sprache ist ein Hindernis für jeden, der sich in China integrieren will. Das Englische hatte für Amerika den Vorteil, dass es ein weltumspannendes britisches Empire gab und deshalb in vielen Teilen der Welt Englisch schon gesprochen wurde, bevor Amerika zur Weltmacht aufstieg. Amerika erbte gewissermaßen dieses Publikum, und so wurde Englisch in jedem Land der Welt zur ersten oder zweiten Sprache.
SCHMIDT Mit der Ausnahme Frankreichs.
LEE Nein, auch in den frankophonen Staaten Afrikas spricht die Führung heute englisch.
SCHMIDT Wird das Chinesische ein Hindernis bleiben?
LEE Ja, es ist die schwierigste Sprache der Welt. Wenn man sie nicht hört, solange man jung ist, wird man nie die richtigen Töne treffen. Jedes Schriftzeichen ist ein Wort, und dieses Wort kann auf vier verschiedene Arten betont werden. Und es gibt viele Worte, die genauso klingen, aber ein anderes Schriftzeichen und eine andere Bedeutung haben. In diese Sprache einzudringen, ist sehr schwer.
SCHMIDT Offenbar ist es möglich, diese Sprache mit so unterschiedlichen Dialekten zu sprechen, dass die Menschen sich gegenseitig nicht verstehen.
LEE Es ist ein riesiges Land, und erst seit einiger Zeit kann man landesweit die verschiedenen Fernsehsender empfangen; jetzt kommen die Smartphones hinzu. Wie in vielen anderen großen Ländern auch, hat jedes Dorf, jede Stadt einen eigenen Akzent. Aber die geschriebene Sprache ist dieselbe.
SCHMIDT Das ist anders als in Indien.
LEE Das stimmt. Man kann China nicht mit Indien vergleichen, denn Indien hat 565 verschiedene Dialekte.
SCHMIDT Ich glaube, es gibt 19 oder 21 sogenannte offizielle Sprachen.
LEE Ja. Aber Indien ist eine Erfindung der Briten. Es waren 565 Fürstentümer mit Maharadschas oder Sultanen, hinduistischen oder muslimischen Herrschern, und es sind unterschiedliche
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