Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts und dann in den Jahren 2007/08 und folgende.
LEE Ich glaube, die Marktwirtschaft ist wesentlich produktiver als die Planwirtschaft.
SCHMIDT Und ob!
LEE Und Amerika verkörpert die Marktwirtschaft in ihrer extremen Form. Das geht bis zum Äußersten, deshalb hat man Booms und Busts, Hochkonjunkturen und Krisen. Aber sie erholt sich immer wieder.
SCHMIDT Manchmal mit verheerenden Verlusten.
LEE Das gehört zum freien Markt.
SCHMIDT Nicht unbedingt. Im späten 18. und im 19. Jahrhundert hatte man in ganz Europa die Marktwirtschaft. Aber solche langen Depressionsphasen gab es nicht.
LEE Europa war damals nicht globalisiert. Erst das amerikanische Jahrhundert hat die Welt globalisiert. Kommunikation und Transport haben eine Welt und einen Weltmarkt entstehen lassen.
MATTHIAS NASS Würden Sie der Aussage zustimmen, dass es heute drei unterschiedliche Modelle des Kapitalismus gibt, das angloamerikanische System des freien Marktes, das europäische Wohlfahrtssystem und den asiatischen Staatskapitalismus?
LEE Das amerikanische System ist der total freie Markt – Boom, Krise und wieder Boom. Das europäische System ist das Ergebnis von zwei Weltkriegen. Man hat versucht, einen Ausgleich zwischen Besitzenden und Besitzlosen zu finden, und der Wohlfahrtsstaat hat sich um die Unterschicht gekümmert. In Europa gibt es heute keine Unterschicht mehr. In Amerika gibt es eine Unterschicht. Aber das amerikanische System ist im Vergleich mit dem europäischen kraftvoller. Da das europäische System die weniger Fleißigen unterstützt, ist es weniger produktiv.
SCHMIDT Nach meinem Eindruck wird auch die Entwicklung in den Vereinigten Staaten zu einer Art Wohlfahrtsstaat führen, möglicherweise zu einem wesentlich schwächeren als in Europa. Und ich könnte mir vorstellen, dass diese Entwicklung auch in China stattfindet.
LEE In China gibt es ein anderes Problem. China besitzt einen konfuzianischen Hintergrund, es lebt in dem Glauben, dass man jedermann einbeziehen kann. Es gibt also keinen wirklichen Kampf. Die heutigen Führer in China wissen, dass eine Disparität besteht zwischen dem Wohlstand an der Küste und dem im Landesinnern und dass die Wachstumsraten nicht nachhaltig auf eine Annäherung hindeuten. Sie bauen die Infrastruktur aus, versuchen, Investitionen ins Landesinnere nach Westen zu verlagern und die Verhältnisse einander anzugleichen. Die Amerikaner versuchen nicht, solche Gleichheit herzustellen. Was Singapur betrifft, so sind wir erfolgreich, und wünschen, dass die anderen es auch sein mögen (lacht).
SCHMIDT Sie sind extrem erfolgreich gewesen, Harry. Ein Wort noch zu Ihrer Einschätzung des europäischen Systems. In Europa gibt es große Unterschiede, was die Rolle des Wohlfahrtsstaates in der Gesellschaft angeht. Die Staaten, die diese Frage am besten gelöst haben, sind die skandinavischen, dann kommen Holland, Deutschland, Frankreich, dann die übrigen. Heute wird der Wohlfahrtsstaat in Europa als Teil der Lebenswirklichkeit verstanden, über die nicht mehr diskutiert werden muss. Er wird als selbstverständlich vorausgesetzt.
LEE Deshalb gibt es auch einen Verlust an individuellem Streben nach Erfolg und Wohlstand.
SCHMIDT Ich bin vollkommen Ihrer Meinung. Die Frage ist, ob die Amerikaner ihr Streben nach individuellem Erfolg behalten werden.
LEE Ich bin überzeugt, das werden sie, denn es liegt im Wesen ihrer Gesellschaft. Die Pilgerväter lebten vor gerade einmal vierhundert Jahren – das ist wenig im Vergleich zur europäischen Zivilisation –, und die Einwanderer werden immer mehr; ein großer Teil der Bevölkerung gehört der zweiten oder dritten Einwanderergeneration an. Einwanderer sind in der Regel flexibel, sie haben ihr Heimatland verlassen, sie haben eine unsichere Zukunft, also müssen sie alles tun, um ihre Zukunft zu sichern.
MATTHIAS NASS Wie steht es um das asiatische Modell des Staatskapitalismus: freier Markt, aber mit einer starken Rolle des Staates?
LEE Nein, es ist kein vollständig freier Markt. Es ist ein partiell freier Markt, aber der Staat spielt die Hauptrolle beim Ausgleich der Interessen. Nehmen wir China als Beispiel und verallgemeinern es zum Modell. Die chinesische Führung ist sich bewusst, dass ihre Legitimität von der Zustimmung der Bevölkerung abhängt. Es gibt keine Wähler, keine demokratischen Wahlen, aber sobald die Führung die Legitimität verliert, wird eine Revolution ausbrechen. Also bemüht sie sich,
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