Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
dabei.
SCHMIDT Ohne Winston Churchill hätten die Westmächte den Krieg nicht gewonnen.
LEE Ja. Er hat den Realitäten getrotzt. Jeder andere, wie etwa Neville Chamberlain, wäre auf irgendein Arrangement eingegangen.
SCHMIDT Es gab auch keinen Franzosen.
LEE De Gaulle glaubte, er repräsentiere Frankreich, obwohl er in Wirklichkeit niemanden repräsentierte. Er trat in London auf, als wäre er der Vertreter Frankreichs, und wurde zu einer regelrechten Plage. Von britischer und amerikanischer Hilfe abhängig, bestand er darauf, er sei Franzose und repräsentiere die Seele Frankreichs. Also, in diesem Sinne ist er auch ein großer Mann.
SCHMIDT Er war gewiss ein großer Mann, besonders nach dem Krieg, als er in den sechziger Jahren den Deutschen die Hand reichte.
MATTHIAS NASS Die beiden von Ihnen genannten Männer, Deng Xiaoping und Winston Churchill, haben die Welt zum Besseren geformt. Aber es gab auch negative, böse Charaktere, die die Welt des letzten Jahrhunderts vielleicht sogar stärker geprägt haben als diese beiden.
LEE In Asien wäre Mao Zedong eine Katastrophe geworden, wenn er länger gelebt hätte, weil er an die permanente Revolution glaubte. Er hatte diese romantische Vorstellung, dass stabile Verhältnisse zu einer Bürokratisierung führen und ein Volk dadurch den Antrieb zu Reformen und zur Veränderung der Welt verliert. Deshalb halte ich ihn für einen gefährlichen Mann. Hätte er weitergelebt und Deng Xiaoping nicht die Macht übernommen, wäre China zusammengebrochen und hätte sich selbst und den ganzen Fernen Osten ins Unglück gestürzt. In Europa wäre Hitler, wenn er Erfolg gehabt hätte, eine noch größere Katastrophe gewesen. Angenommen, er hätte Moskau erreicht und eingenommen und er wäre danach nicht weiter gegangen, dann wäre es Briten und Amerikanern sicher schwergefallen, den Wall, den er im Westen Frankreichs errichtet hätte, zu durchbrechen. Doch das ist Geschichte. Die Amerikaner haben im Übrigen nicht wegen der Demokratie oder der Menschenrechte in den Krieg eingegriffen, sondern weil sie nicht wollten, dass Europa von einer mächtigen Ideologie beherrscht wurde, die sie bedrohte. Churchill war ein guter Freund Roosevelts, aber Freundschaft floss nicht in das Kalkül ein. Es lag im amerikanischen Interesse, dass Europa nicht in die Hände eines Mannes wie Hitler fiel.
SCHMIDT Ich stimme Ihnen zu, was die herausragende Persönlichkeit von Deng Xiaoping betrifft. Unter den politischen Führern, die ich persönlich kennengelernt habe, war er wahrscheinlich der größte.
LEE Ich habe über ihn einmal geschrieben: Er ist nur 1,52 Meter groß, aber als politischer Führer ein Riese.
SCHMIDT Und er war Raucher! (Beide lachen.)
LEE Ja, das war er. Und er hat nicht unter einem Lungenemphysem gelitten.
SCHMIDT Sein Spucknapf stand einen Meter entfernt, er benutzte ihn regelmäßig und verfehlte ihn nie.
LEE Als er vor dem vietnamesischen Angriff auf Kambodscha und Laos 1978 Singapur besuchte, um uns gegen die Vietnamesen zu mobilisieren, sprach er ohne Notizen; er hatte vorher genau geprobt, was er in Bangkok, Kuala Lumpur und Singapur sagen wollte, und konnte es gut und geschliffen präsentieren. Also lehnte ich mich zurück und fragte ihn: »Sollen wir heute Abend zusammen essen, oder sollen wir gleich anfangen?« Er sagte: »Essen wir doch zusammen.« Also aßen wir zusammen zu Abend. Am nächsten Tag sagte ich: »Sie haben gesagt, wir sollten uns gegen den russischen Bären verbünden, aber meine Nachbarn wollen sich gegen den chinesischen Drachen verbünden. Vom Bären fühlen sie sich nicht bedroht, sondern von Ihren Radiosendern, Ihrem Geld an die Guerillas in Thailand, Malaysia und anderswo.« Ich erwartete eine aufbrausende Reaktion. Aber es kam nichts. Er schwieg einen Moment und sagte dann: »Was verlangen Sie von mir?« Ich antwortete: »Stellen Sie es ein.« Daraufhin sagte er: »Geben Sie mir etwas Zeit.« Und binnen eines Jahres stellte er es ein. Er ist ein wahrhaft großer Mann! An jenem Abend hatte ich übrigens einen Spucknapf für ihn aufstellen lassen.
SCHMIDT Sie haben einen Spucknapf vor ihm aufgestellt (lacht)?
LEE Ja, einen Spucknapf aus bestem blau glasiertem Ming-Porzellan. Aber er hat ihn nicht benutzt. Er rauchte auch nicht, obwohl ich seinem Stab gesagt hatte, dass ich eine spezielle Klimaanlage hätte einbauen lassen, die den Rauch absauge.
SCHMIDT Aus Höflichkeit Ihnen gegenüber. Wann fand dieses Treffen statt?
LEE 1978, im
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