Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
mir, der sich über unsere Gesetze informieren sollte. Ich fragte ihn: »Wofür brauchen Sie die Gesetze?« Darauf antwortete er: »Wir wollen sie studieren und sehen, wie wir sie anwenden können.« – »Zuerst müssen Sie unabhängige Richter haben, die bereit sind, Urteile gegen die Regierung zu fällen und zwischen Bürgern und der Regierung zu vermitteln. Dann haben Sie einen Rechtsstaat.« Er erwiderte: »Keine Sorge, geben Sie mir einfach die Gesetze.« Also bekam er die Gesetze, und sie wurden übersetzt. Aber ich glaube nicht, dass sie Anwendung gefunden haben, denn ihre Richter haben immer getan, was die Führung sagt.
SCHMIDT Die Richter tun immer noch, was die Führung sagt. Aber früher waren die Richter Leute, die wussten, wie man Entscheidungen umsetzt, das heißt Leute aus der Armee. Heute gibt es bereits Richter, die von den Universitäten kommen. Das könnte einen gewissen Fortschritt bedeuten.
Ich würde gern noch eine Bemerkung über Deng anfügen. Ich glaube, dass er der erste Kommunist überhaupt ist, der Erfolg gehabt hat.
LEE Nein, er ist kein wirklicher Kommunist. Er ist Pragmatiker. Alles muss funktionieren, ob die Katze schwarz oder weiß ist, das ist sein Diktum, sein Motto.
SCHMIDT Sein Pragmatismus ist übrigens der gleiche, der Sie, George Shultz und mich verbindet.
LEE (lacht) Wenn Sie das so sehen!
MATTHIAS NASS Ich habe noch eine letzte Frage zu dem Komplex Lebenserfahrung. Sie können beide auf ein sehr langes Leben zurückblicken. Wenn Sie die Welt, in der wir heute leben, mit der Welt von vor neunzig Jahren vergleichen – leben wir dann in einer besseren Welt?
LEE Das hängt davon ab, was Sie unter einer besseren Welt verstehen. Wenn Sie Europäer sind, Franzose zum Beispiel, dann finden Sie wahrscheinlich nicht, dass Sie in einer besseren Welt leben, denn es sind große Länder wie China aufgetaucht, und Europa wird unwichtig, weil es sich nicht vereinigen kann. Stattdessen werden die Amerikaner sich mit den Chinesen einigen, also G2. Wenn Sie mit einer besseren Welt aber meinen, dass die Weltbevölkerung insgesamt ein besseres Leben führt, mit weniger Armut, mehr Wohnungen, mehr Arbeit und genügend Essen, dann würde ich sagen, ja. Es gibt weniger Hungernde, sogar in Indien. Das liegt nicht nur an den Indern, sondern auch an der Technologie. Die auf den Philippinen durchgeführten Forschungen zum Reis tragen dazu bei, dass genügend Reis für die Ernährung der Menschen geerntet werden kann. Die bessere Welt muss also definiert werden: Besser für wen? Wenn Sie mich fragen, würde ich unter dem Strich sagen: weniger hungernde Menschen, weniger arbeitslose Menschen.
Helmut Schmidt im Gespräch mit Deng Xiaoping 1984 in Peking. Schmidt reiste als Privatmann anlässlich des 35. Jahrestags der Republikgründung nach China.
© Archiv Helmut Schmidt
MATTHIAS NASS Eine friedlichere Welt?
LEE Ja, aufgrund der nuklearen Abschreckung. Sie macht Kriege zwischen großen Ländern unmöglich. Wie mächtig China auch wird, es wird niemals Amerika oder Russland angreifen. Das stabilisiert die Situation. Und die Franzosen haben ihre Force de Frappe, die im Ernstfall vielleicht nicht ausreichen würde, aber meiner Meinung nach immer noch symbolischen Wert hat. Auch sie können zurückschlagen. Wenn Sie mit einer besseren Welt meinen, dass wir alle besser regiert werden, dann würde ich antworten: nicht notwendigerweise. Es hängt vom jeweiligen Land ab. In vielen Teilen der Welt, in Afrika, vielleicht auch in Lateinamerika, ist man schlechter dran als früher. Die Korruption ist erschreckend, sogar in Indien. Premierminister Manmohan Singh ist vorgeworfen worden, die Korruption zuzulassen. Heute ist sie endemisch. Wer an der Macht ist, verdient Geld. Wer nicht an der Macht ist, verdient kein Geld. In dieser Hinsicht sind auch die Chinesen in Gefahr, da die Korruption dort ernste Ausmaße annimmt. Wir reden hier nicht von den obersten Rängen, die kümmern sich schon um ihr Auskommen. Wenn Hu Jintao sich zurückzieht, braucht er sich um seinen Lebensunterhalt, sein Essen, sein Bankkonto keine Sorgen zu machen. Aber weiter unten spielen sich Bauunternehmer und lokale Beamte gegenseitig in die Hände, indem die Beamten den Bauern Land wegnehmen, das die Bauunternehmer dann zu Geld machen. Das führt zu großer Unzufriedenheit in China und wird letztlich dazu führen, dass die Legitimität der chinesischen Regierung in Frage gestellt wird.
MATTHIAS NASS Sie haben fast Ihr ganzes Leben
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