Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
die Revolution zu verhindern, indem sie die Unterschiede auszugleichen und ein Einkommensgleichgewicht zwischen den Erfolgreichen und den Erfolglosen herzustellen versucht. Dies beruht auf der konfuzianischen Philosophie.
SCHMIDT Obwohl der Konfuzianismus das Land beherrschte, kam es dennoch zum Taiping-Aufstand und zum Boxeraufstand, beide im selben Jahrhundert.
LEE Der Taiping-Aufstand war eine merkwürdige Sache: Eine Gruppe von Konterrevolutionären griff zu den Waffen und bedrohte das Zentrum. Der Boxer-Aufstand hingegen war eine Bewegung gegen ausländische Besatzungsmächte in deren Niederlassungen in Shanghai, Peking, Tianjin, Guangdong und in den nördlichen Küstenprovinzen.
SCHMIDT Sie messen ihnen also keine besondere Bedeutung bei?
LEE Die Boxer wurden von kleinen ausländischen Truppenkontingenten mit überlegenen Waffen niedergeschlagen. Sie hätten niemals das ganze Land in ihre Gewalt bringen können. Dazu waren es zu wenige.
SCHMIDT Kommen wir zurück auf die amerikanische Wirtschaft, die sich heute nicht im besten Zustand befindet. Was würden Sie tun?
LEE Was könnte ich tun?
SCHMIDT Nehmen wir an, Sie wären der Chef der Citigroup und ich der Chef von Goldman Sachs. Was würden wir tun?
LEE Ich würde sagen, versuchen wir dem Präsidentschaftskandidaten zum Wahlsieg zu verhelfen, der bereit ist, das Schuldenproblem anzupacken.
SCHMIDT Einen solchen Präsidenten werden wir nicht bekommen.
LEE Dann wird das Problem bestehen bleiben, bis es so ernst geworden ist, dass man sich ihm stellen muss.
SCHMIDT Die Amerikaner haben die Depression der dreißiger Jahre erst durch den Krieg und die Kriegsvorbereitungen überwunden.
LEE Das stimmt, aber es liegt auch in der Natur ihrer Wirtschaft, dass sie sich plötzlich einen Ruck geben und wieder prosperieren, während Europa sich nur selbst bemitleidet. Ihr Heimatland war von Europa aus nicht angreifbar, sie waren sicher; also produzierten sie all die Waffen, Schiffe und Flugzeuge für die Schlachtfelder in Europa. Und nach dem Krieg hoben sie ab.
MATTHIAS NASS Was ist der Grund dafür, dass die Amerikaner einen so riesigen Schuldenberg angehäuft haben? Haben sie zu viel konsumiert? Oder ist imperiale Überdehnung der Grund? Ist Amerika in einem Maße in die Angelegenheiten der ganzen Welt verstrickt, das seine ökonomischen Mittel überfordert?
Besuch der Terrakottaarmee im Mausoleum von Qin Shihuangdi in Zentralchina, einer der größten Grabanlagen der Welt.
© Archiv Helmut Schmidt
LEE Nein, die imperiale Überdehnung in Afghanistan und im Irak ist nicht die Ursache des Problems. Der Grund ist, dass der Konsum das Einkommen übersteigt, das ist das Grundübel. Der Irak ist sicher eine falsche Investition gewesen – Waffen, Männer, viel Blut und Geld, aber ein Land wie Amerika verblutet nicht daran. Aber mehr auszugeben, als man verdient, das lässt sich nicht durchhalten.
SCHMIDT Ende des letzten Jahrhunderts gab es eine kurze Zeitspanne während Clintons Amtszeit, in der Amerika für einige Jahre das Ungleichgewicht zwischen Konsum und Ersparnissen korrigieren konnte.
LEE Aber es ist wieder gekommen.
SCHMIDT Und schlimmer als je zuvor.
LEE Die Amerikaner glauben, eine Konsumgesellschaft sorge automatisch für Prosperität.
SCHMIDT Das ist die Chicagoer Schule.
LEE Dieses Denken entspricht genau dem Eindruck, den die amerikanische Werbeindustrie weckt. Fliege jetzt, zahle später. Oder: Du brauchst es nicht, aber es ist gut für dich.
SCHMIDT Und es ist ihnen gelungen, ohne dass sie das beabsichtigten, die Folgen ihrer Schuldenpolitik weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinauszutragen.
LEE Weil sie die größte Wirtschaft der Welt sind. Aber, wie gesagt, in der Mitte des 21. Jahrhunderts wird China Amerika als größte Wirtschaft ablösen, allerdings nicht was das Prokopfeinkommen betrifft.
SCHMIDT Nein, es wird weit mehr Zeit brauchen, um das chinesische Prokopfeinkommen auf die Höhe des amerikanischen zu steigern.
LEE Wenn es jemals gelingen sollte.
SCHMIDT Ja, da haben Sie recht. Aber von zentraler Bedeutung ist die Gesamtwirtschaftsleistung, und deshalb wird China in vierzig Jahren der größte Importeur und der größte Exporteur der Welt sein. Und Singapur wird einer der Häfen sein.
LEE (lacht) Das sind wir schon. Und unser Hafen steht jedem offen.
SCHMIDT Ihre Schiffe werden so groß werden, dass unsere Häfen in Europa sie nicht mehr aufnehmen können.
LEE Der Panamakanal beschränkt die Größe der
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