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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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interessieren. Goethe spielte weiter den Pädagogen. Er halte es für töricht, eine angebotene Gelegenheit, etwas zu lernen, aus nicht anerkennenswerten Gründen nicht zu nutzen. Da, schauen Sie doch.
    Jetzt sahen alle hin. De Ror schleuderte Ulrike förmlich herum. Er hatte sie manchmal nur noch an einer Hand. Ihr freier Arm flog dann frei durch die Luft. Wieder wurde sichtbar die fabelhafte Unabhängigkeit aller ihrer Gelenke. Selbst ihr Kopf schien an ihrem langen, schlanken Hals auf einer Extra-Umlaufbahn mitzufliegen. Und Herr de Ror war der Herr, der sie fliegen ließ und dabei selber verhältnismäßig ruhig blieb. Inzwischen schauten immer mehr diesem Paar zu. Auch Paare, die noch tanzten, gaben auf, blieben stehen und schauten zu. Dann stellte sich ein junger, eher untersetzter Mann in die Quere und klatschte. Aber Herr de Ror reagierte nicht. Da stellte der Untersetzte dem Herrn de Ror ein Bein, der sprang drüber, nahm dabei wunderbarerweise Ulrike mit und verhinderte so, dass beide stürzten. Er hielt Ulrike weiter an der linkenHand, schlug aber mit der rechten Faust dem Störer so unters Kinn, dass der nach rückwärts fiel und auf dem Boden liegen blieb. Die Kapelle intonierte einen flotten kaiserlichen Marsch, die Paare gingen im spielerischen Marschtritt zu ihren Plätzen, vier Kellner hatten den Ohnmächtigen schon aus dem Saal getragen, Dr.   Rehbein rannte hinter ihnen her.
    Der Arme, sagte die Ulrike-Mutter.
    Kennt man ihn, fragte Goethe.
    Der Graf hat ihn heute in seinem Wagen aus Wien mitgenommen. Ein junger Dichter, den er protegiert.
    Dichter, sagte Goethe.
    Braun von Braunthal, sagte sie.
    Goethe sprang auf, sah zur Tür, zu der der junge Dichter gerade hinausgetragen worden war. Braun von Braunthal, der Schwärmer, dessen Beschreibungshymnus er gerade wieder gelesen hatte. Der wollte Ulrike zurückerobern. Für uns. Goethe setzte sich und warf es sich vor, dass er nichts für den Niedergeschlagenen tat.
    Herr de Ror kam mit Ulrike zurück. Da der Stiefsohn Napoleons nicht bemerkte, auf welchem Platz er saß, setzte sich Ulrike jetzt auf einen Stuhl neben Herrn de Ror.
    Ulrike sagte: Das tut mir so arg leid.
    Und de Ror: Immer noch gilt, den, den man abklatschen will, lässt man zuerst das Stück, das gerade dran ist, zu Ende tanzen. Oder gilt das nicht mehr.
    Alle bestätigten ihm, dass das immer noch gelte.
    Ulrike sagte noch einmal, wie arg ihr das sei.
    Zum Glück hatte sich Graf Klebelsberg ans Klavier gesetzt, hatte durch ein paar virtuose Glissandi die Aufmerksamkeitaller auf sich und das Klavier gelenkt und gab nun mit seiner schönen Stimme bekannt, er wolle die neueste Vertonung eines der allerschönsten Gedichte unseres Meisters hier vortragen, weil er annehme, ja eigentlich sicher wisse, dass das, was Franz Schubert mit Goethes Sehnsucht komponiert habe, hier noch nicht gehört worden sei. Ja, vielleicht ist sogar dem Meister selbst noch nicht bekannt, was in Wien einem Genie zu Goethe eingefallen ist. Und sang:
    Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide!
    Allein und abgetrennt
    Von aller Freude,
    Seh’ ich an’s Firmament
    Nach jener Seite.
    Ach! der mich liebt und kennt
    Ist in der Weite!
    Es schwindelt mir, es brennt
    Mein Eingeweide.
    Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide!
    Zuerst war es vollkommen still, dann brachen, als habe ein Dirigent den Einsatz gegeben, alle auf einmal in einen gewaltigen Beifall aus. Zum Grafen Klebelsberg hin. Zuerst. Dann aber zu Goethe. Der stand auf, verbeugte sich, hob beide ineinander verschränkte Hände und dankte so dem Sänger. Gegen diese Stimme konnte er sich nicht wehren. Er sah, dass Ulrike Tränen in den Augen hatte, ihre Mutterauch. Er dachte an Zelters Vertonung dieses Gedichts. Schubert, der Name wurde jetzt öfter genannt von Besuchern, die aus Wien kamen oder in Wien gewesen waren. Er war mit Zelters Vertonungen durchaus zufrieden. Seinetwegen hätten seine Gedichte nicht vertont werden müssen. Jetzt war er doch irritiert. Das ging sehr weit, was da mit ihm veranstaltet wurde.
    Graf Klebelsberg gab bekannt, dass er noch den Erlkönig singe. Wen dieses Lied nicht mitreiße, der dürfe sich getrost im Museum in die Abteilung Pyramidenschrott legen lassen.
    Gelächter. Er begann, er sang, Goethe merkte, dass er sich nicht wehren konnte. Ihm war es nicht recht, dass diese Musik sich des Textes so bemächtigte, dass der Text nur noch ein Anlass war für ungeheure, eigentlich dämonische Gesten. Tongesten.

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