Ein liebender Mann
ganz Europa das Allerköstlichste versammelt und zubereitet, wie nur er das könne, selbst Fleischgeschmack komme vor, aber ebenohne Fleisch. Ein paar mutige Bravo-Rufe. Ulrike gehörte zu den Bravo-Rufern.
Für Goethe war Catty von Gravenegg jetzt zweifach ausgezeichnet beziehungsweise attraktiv: durch den bayerischen Ton und durch die Fleischlosigkeit. Für Ausdruckswirkungen durfte er sich als Experte fühlen. Dieses den eigenen Körper in jeder Bewegung feiernde Mädchen, und dann Vegetarierin. Zu Ulrike hin sagte er, er habe nicht gewusst, dass sie vegetarisch tendiere. Sie zog die Augenbrauen in die Stirn, warf beide Hände hoch in die Luft und sagte: Ich tendiere überhaupt, Exzellenz. Sie nannte ihn von diesem Augenblick an nur noch Exzellenz. Tatsächlich wurden sie dann Zeugen einer Vielfalt von Geschmäckern, die von keinem um Fleisch herumgelegten Menu erreicht werden kann. Frau von Levetzow freute sich darüber, dass Dr. Rehbein den Mann von fünfzig Jahren so launig in seine Rede hineingenommen hatte. Und forderte auf, jetzt mit dem von der Loire kommenden Weißwein auf den Mann von fünfzig Jahren zu trinken. Alle, die so nah saßen, dass sie das gehört hatten, tranken dem Dichter herzlich zu. Ulrike aber nicht. Goethe sah’s, sie schüttelte den Kopf und formulierte mit den Lippen ohne Ton: Kein Wein. Überhaupt kein Alkohol. Da setzte er sein Glas ab und sagte, er danke allen, die ihm beziehungsweise seinem Mann von fünfzig Jahren zugetrunken hätten, er selber hätte zu gern mitgetrunken, aber da er zur Zeit nichts tun könne, was Ulrike von Levetzow nicht auch tue, sie aber dem Wein sich noch nicht öffnen wolle, verschließe auch er sich für heute dem Wein. Und morgen, fragte ein junger Mann, der dem Aussehen nach von weit her kam. Goethe sah ihn an.Dann sah er Ulrike an. Dann sagte er: Was morgen ist, kann nur die Edle von Levetzow entscheiden, mein Herr. Darauf würde ich gern trinken, wenn ich darf, Ulrike. Sie warf die Hände in die Luft, in seine Richtung, und rief: Ja, ja, ja, Exzellenz. Goethe nahm einen großen Schluck.
Dann ging’s hinauf ins Palais Klebelsberg. Empfangen wurden sie unter den Rundungen und rötlichen Farben des Vestibüls vom Hausherrn, der mittags, aus Wien kommend, eingetroffen war. Ein noch schönerer Mann als Dr. Rehbein, Franz Graf von Klebelsberg, der Goethe mit weit geöffneten Armen willkommen hieß und mit einer Stimme, wie sie nur Sänger haben, sagte: Obwohl es der Geheimrat sicher nicht mehr hören könne, er sei im Augenblick genau neunundvierzig, also im Jänner fünfzig, und was ihm dann bevorstehe, habe er in diesem von schönsten Genauigkeiten strotzenden Buch fürchterlich zur Kenntnis genommen. Ohne seine Amalie von Levetzow möchte er vor diesem Datum sowieso an den Nordpol fliehen, in der Hoffnung, dort erfrören alle Daten. Er hatte die Arme, sobald er Goethe in Reichweite nahegekommen war, sinken lassen, hatte sich tief verneigt und nur noch gesagt: Allerhöchste Verehrung, Exzellenz. Franz, sagte die alles beobachtende Ulrike-Mutter, mäßige dich. So kam man in den quer zum Vestibül liegenden Großen Saal.
Der Saal, erst vor einem Jahr vollendet, war ein radikal romantisches Bauwerk mit allen dazu nötigen dekorativen Entgleisungen. Gewaltige Fenster, in die böhmische Glasschleifervirtuosen Blumenmuster von unterschiedlicher Durchsichtigkeit hineingeschliffen hatten. In jeder Ecke und immer zwischen zwei Fenstern Säulenpaare aus rotemMarmor, die nichts zu tragen hatten als Akanthuskapitelle. Ein Saal aus lauter Spielerei und übermütig verträumter Stimmung. Wer zum ersten Mal Gast war, gratulierte dem Grafen. Als die Kurkapelle einsetzte, war man sofort in Wien. Seit dem Kongress tanzte in Europa, wer modern sein, jung sein, schön sein, glücklich sein wollte, Walzer. Frau von Levetzow sah, wie diese Musik auf Goethe wirkte. Herr Geheimrat, sagte sie, für den Mann von fünfzig Jahren kein Problem. Dass Goethe den Körper nie zugunsten der Seele zweitrangig habe werden lassen, habe sie in seinen Schriften immer erlebt. Aber jetzt, im Fünfzigjährigen Mann, die Krönung, der Gipfel, einen Verjüngungsdiener kriegt der Held verpasst, einen kosmetischen Berater, so steht es im Buch, das klingt so sachlich, so hoffnungssicher, kosmetischer Berater, dann auch noch Verjüngungsdiener, Herr Geheimrat, für diese Wortschöpfung möchte ich Sie küssen. Und küsste ihn von der Seite. Er sah nur, dass Ulrike ihre Mutter streng
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