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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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loslassen, zittern, aber dann hebt er die beiden Hände auch noch in die Höhe, und die zittern natürlich immer noch, und links und rechts von ihm, das Liebespaar, beide strecken ihre Hände auch in die Höhe, und was tun die, die zittern, Moment, der Clou kommt erst, der Vertraute des Helden schleicht von hinten nach vorne, stellt sich neben die drei, hebt die Hände in die Höhe, und die zittern natürlich, also zittern jetzt acht in die Höhe gestreckte Hände.
    Jetzt lachten alle am Tisch. Herr de Ror tat so, als könne er nichts für das Gelächter, das er gerade produziert hatte. Seinem Kopf sah man den Orient an, ohne dass man den Mann hätte für einen Orientalen halten können. Ein gerade noch junges Gesicht, vor allem männlich, beträchtliche Nase, kaum vorhandener Mund, kurze Haare eng am Kopf, die Augen dunkel, ein Distanz schaffender Blick, insgesamt eher simpel, wenn eben doch Kraft verbürgend.Dieser gerade noch junge Mann wird sich nie an andere verlieren. Der bleibt bei sich. So schoss es polemisch durch Goethe durch. Er konnte sich nicht wehren. Er verlor sich sofort an diese Anempfindung. Er musste gehen. Am meisten sagte der Blick, mit dem musste er sich noch beschäftigen. Aber nicht hier. Jetzt geh doch endlich!!!
    Goethe flüsterte der Ulrike-Mutter ins Ohr: Bis morgen. Es war sehr schön. Ich danke Ihnen. Und drückte sie, dass sie sitzen bleibe und kein Aufhebens mache, sanft auf ihren Stuhl. Und war draußen, ehe die über die acht hoch in der Luft zitternden Hände ausgelacht hatten. Ulrike hat auch gelacht, mitgelacht, in aller Unschuld sozusagen. Wollte er denn vorschreiben, worüber sie noch lachen durfte? Ja, sagte es automatisch in ihm. Das suchte er zurückzunehmen. Und kam sich heuchlerisch vor. Die letzte Wahrnehmung: Herr de Ror hatte inzwischen seinen Arm auf die Lehne von Ulrikes Stuhl gelegt. Ob bloß auf die Lehne oder doch schon um ihren Rücken oder um ihre Taille, das hatte er in der Eile, die er jetzt für nötig hielt, nicht mehr wahrnehmen können. Aber das hörte er noch, dass der zu ihr hin sagte, so ungeniert laut sagte, als wären sie ganz allein: Il y a quelque chose dans l’air entre nous. Und hatte ihr sein Gesicht hingehalten, als sei sie der Arzt, der prüfen müsse, ob die Entzündung schlimm sei. Und sie schaute tatsächlich hin, als sei sie sein Arzt. So bezwingend war seine Hinhalte-Pantomime. Der letzte Satz, den er dann noch gehört hatte, war wieder ein Satz des Herrn de Ror, der nichts auf das Theater kommen lassen wollte. Das schlechteste Theaterstück sei immer noch besser als die beste Langeweile. Das war jetzt wieder Wien. Dannwar Goethe draußen, auch gleich drüben und droben, in seinem Zimmer.
    Was jetzt? Wie jetzt? Wohin? Hier bleiben wohl nicht. Stadelmann schlief. John schlief. Selber packen?
    So genau zu wissen, was zu tun ist, und es nicht tun, das ist die Katastrophe.
    Er hat es doch in jeder Sekunde gewusst, aber in keiner Sekunde sich eingestanden, dass nichts sein konnte. Nichts. Nichts. Nichts. Verloren war er schon nach dem ersten Jahr. Das Etwas, das nichts ist und nichts wird, das, je länger es nichts ist, immer, immer wichtiger wird, bis es zum Wichtigsten, Allerwichtigsten, bis es zum Einzigen wird, dich ausfüllt, bestimmt, beseligt, hinaufwirft in jede Höhe, nur dass der Sturz dann um so gemeiner ist. Sein Herz klopfte. Schlug gegen die Brustwand. Schlug im Hals hoch. Er musste ein Fenster aufreißen, frische Luft einziehen, die Arme bewegen, er spürte, es gibt Gedanken, an denen man ersticken kann. Er durfte nicht so viel Luft holen, wie er bräuchte. Nur anatmen durfte er, obenhin atmen. Die längst geprüfte Lebensregel, wenn sich eine Abschüssigkeit, Unbeherrschbarkeit, eine Gravitation ins Unmögliche spürbar macht – wo bleibt dein Halt, die eingeübte Angst vor dem Sturz in die grelle Armut. Nichts macht so arm wie eine Liebe, die nicht glückt. Schreib’s auf. Dir gab doch ein Gott zu sagen, wie du leidest. Was für ein elender Vorteil: Sich erschießen muss man können. Die Folter ist, sagen zu müssen, wie du leidest. Für deinen Werther hat Lotte die Pistole von der Wand geholt, hat sie sorgfältig gereinigt und hat sie ihrem Albert gereicht, dass der sie Werther reiche, dass der mit einer von Lotte geputztenPistole seinem schmutzigen Zustand ein Ende bereite. Leiden ist schmutzig. Macht schmutzig. Es gibt, wenn es aussichtslos geworden ist, keine andere Reinigung mehr als den Tod. Du flüchtest ins Schreiben

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