Ein liebender Mann
… Du hast noch nie, nie, nie gelitten. Bis jetzt waren es immer die anderen, die gelitten haben. Frau Berlepsch. Die zwanzigseitigen Briefe, die sie dir schreibt. Seit zwanzig Jahren. Du kannst sie schon lange nicht mehr lesen. Briefe einer armen, lästigen, vom Leiden beschmutzten Frau, die geboren sein will, dich zu lieben, und darauf wartet, dass du sie – und sei es für eine Sekunde, sagt sie – erhörst. Mitleid ist dem Ekel benachbart. Du kannst jetzt einen zwanzigseitigen Brief an Ulrike von Levetzow schreiben und ihr drohen, dass sie mit weiteren zwanzigseitigen Briefen zu rechnen habe, da du, statt zu schießen, schreiben müssest. Siebzehn Sprachen spricht der Vornamenlose. Er muss dich in jeder Hinsicht von oben anschauen. Gardemaß. Schätzungsweise einsneunzig. Schlank, aber kein bisschen dürr. Und ein Gesicht weder breit noch schmal, aber von Knochen, nicht vom Fleisch beherrscht. Ein massives Kinn, das auf der eher schlichten Oberlippe durch ein schwungvolles Bärtchen ausgewogen wird. Eine fast zu kräftige, von keinem Schwung belebte Nase. Höhnisch hohe Brauen. Am violetten Schal ein grüner Edelstein. Wahrscheinlich Smaragd. Ihre Augenfarbe. Das fügt sich, das werden sie beide, sobald sie allein sind, bemerken, feiern, bejubeln. Sie sehen schön aus heute, hat sie vorgestern gesagt, als er sie zum Promenadengang abholte. Sie hat nicht gesagt: Sie sind schön. Er hat sich gehalten. Sieht gut aus. Steht in hundert Zeitungen, dass er gut aussieht. Allerdings, wiedie sich begeistert wundern über sein gutes Aussehen, das ist auch krass beleidigend. Noch lauter als die Hymne auf sein Immer-noch-Aussehen wird da immer: Dafür, dass du so ein alter Schleicher bist, siehst du noch ganz gut aus. In deinem Alter gibt es, wenn es ums Aussehen geht, nur noch die Beleidigung. Und nicht nur, wenn es ums Aussehen geht. Siehe Byron, Scott, die die Szene beherrschen. Du bist vieux jeu. Aber das ist weder neu noch schlimm. Schlimm vielleicht, aber nicht tödlich. Daran, dass man alt ist, stirbt man nicht. Schreib’s auf. Schlimm ist, nicht mehr lieben zu dürfen. Lieben darfst du doch, du musst dich nur daran gewöhnen, nicht mehr, nie mehr geliebt zu werden. Schreib Frau Berlepsch, Isolde heißt sie, schreib ihr, jetzt verstündest du sie, jetzt wüsstest du, wie du sie gequält habest durch Nichtachtung und in Ekel übergehendes Mitleid. Lieben, ohne geliebt zu werden, das dürfte es nicht geben. Diesen gemeinsten Schicksalspfusch hatte er noch nicht erfahren gehabt, dafür wurde Ulrike von Levetzow geboren und gebildet. Das ist nicht ihr einziger Lebenssinn. Sie wird als Frau de Ror in Europa glänzen. Und vorher hat sie eben noch beiläufig diese Funktion gehabt, dich erfahren zu lassen, was viele durch dich erfahren haben, wie das tut, lieben, ohne geliebt zu werden. Notiert hast du einmal naseweis und unerfahren: Niemand ist zur Zeit in mich verliebt, ich bin in niemanden verliebt, nur der Tod steht in der Ecke. Dass niemand in dich verliebt ist, ist nur eine Gemeinheit, wenn du in jemanden verliebt bist und deine Liebe wird nicht erwidert, ja zurückgestoßen. Wenn die Schöpfung je daran interessiert gewesen sein sollte, die Erde, das Menschenleben auf dieser Erde erträglich zumachen, dann fehlte in den Anweisungen, die der Herr durch Moses den Menschen gegeben hat, die wichtigste. Du sollst nicht lieben. Das ist das Gebot Nummer 1. Wahrscheinlich war Moses, als er den 2244 Meter hohen Gesetzgebungsberg erstiegen hatte, zu erschöpft und kriegte das erste Gebot, das der Herr erließ, gar nicht mit. Ein tragisches Versäumnis und nicht wiedergutzumachen. Wenn Moses dieses Gebot mitgebracht hätte vom Sinai, hätte der Menschheit nichts gefehlt außer der Tragödie. Der Ursprung jeder Tragödie ist immer die Liebe gewesen. Und so leicht wäre es gewesen, auszukommen ohne Liebe! Zur Fortpflanzung war sie noch nie nötig. Wozu also Liebe? Dass wir merken, wir leben nicht mehr im Paradies. Dass kein menschliches Leben ohne Leiden bleibe. Keins. Der Herr war klug genug. Ich bin ein eifersüchtiger Gott, hat er dazu gesagt.
Goethe musste seine Kleider loswerden, warf sie weit von sich. Er musste alle Kleider, in denen er je vor Ulrike erschienen war, verbrennen. Sie sehen schön aus heute. In drei Jahren diesen einzigen Satz. Er hat es jedes Mal gesehen und ihr begeistert gestanden, wie schön sie sei in diesem und in diesem und in diesem Kleid. Er hatte sich schon in den Jahren 1821 und 22 mit
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