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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Mitternacht verrate er, wo immer er sei, seinen Vornamen.
    Interessant, sagte Goethe.
    Denken wir doch nicht mehr an diesen veloziferischen Kerl, sagte sie. Veloziferisch betonte sie so, dass er hören sollte, sie benutze ein Wort, das sie bei ihm gelernt hatte. Und sagte noch dazu, dass sie dieses Wort liebe, sehr liebe,veloziferisch. Bitte, nicht den liebe sie, den sie so nenne, sondern das Wort. Sie liebe Wörter, die so lauten, dass man sie schon dem Laut nach verstehen könne. Wörter, die der Vorstellung noch etwas zutrauen.
    Er bat sie, Platz zu nehmen. Sie setzte sich auf einen der Stühle an den runden Tisch. Jetzt konnte er tatsächlich fragen, wo der Vornamenlose, der er ja bei Tageslicht wieder sein müsse, wo der sei.
    Fort, sagte sie, da gehört er hin.
    Goethe schaute, dass sie wusste, sie müsse es ihm erklären.
    Herr de Ror habe sie mitnehmen wollen. In seine Suite. Zuerst sage er ihr, sagte er, jetzt seinen Vornamen. Dann sagte er ihr seinen Vornamen. Dann sagte er, dass er ihr seinen Vornamen gesagt habe, gebe ihn ganz in ihre Hände. Er wisse nicht, wie er jetzt diese Nacht ohne sie überleben könne. Jetzt nur weg, wusste sie, riss sich los, war los, aber er, sicher ohne nachzudenken, er rief: So nicht! Fing sie, hatte sie gefangen, riss sie zu sich, an sich, hatte schon ihren Kopf in seinen Händen, presste sich auf sie, sein Gesicht auf ihr Gesicht, die Münder, das hat ihr die Kraft gegeben, die ihr beim ersten Losreißen gefehlt hat, sie war weg, war in ihrem Zimmer, schloss zu, zitterte, sie weiß nicht, wie lang, sie stand noch an der Tür, horchte, ob er ihr gefolgt sei, sie weiß nicht, wie sie ins Bett gekommen ist. Und konnte nicht einschlafen. Sie würde den Herrn Geheimrat gern etwas fragen.
    Bitte.
    Sie hat alles falsch gemacht. Sie hat de Ror behandelt wie einen Irren oder wie einen Wilden. Das hat ihn erst irre undwild gemacht. Hätte sie nicht zuerst mitspielen müssen? Rokoko, Exzellenz! Rokoko! Anstatt gleich Beethoven.
    Goethe sagte nichts. Er probierte mehrere Arten von Gesichtsausdruck. Fand keinen.
    Exzell-e-enz, rief sie. Sie sei noch da.
    In ihm führte sich die Szene noch einmal auf, Wort für Wort, Betonung für Betonung, genau so, wie sie sie dargestellt hatte. Sie hatte auch durch Bewegungen ausgedrückt, in welcher Lage sie sich befunden hatte. Er musste jetzt aber doch wissen, ob es ihm erlaubt sei, nach dem Vornamen des bis Mitternacht Vornamenlosen zu fragen.
    Das ist es ja eben, sagte sie. Er hat mich versprechen lassen, dass ich seinen Vornamen nicht weitersage. Erst wenn ich seine Frau sei, vor aller Welt, erst dann dürfe ich seinen Vornamen aller Welt verkünden. Und sie könne doch jetzt nicht das Vertrauen, das er ihr so stürmisch geschenkt hat, missbrauchen. Sie hat das Gefühl, wenn sie sein Vertrauen breche, verletze sie ihn persönlich. Das hat er sie spüren lassen, ein Vertrauensbruch bedeute eine persönliche bis ins Körperliche gehende Verletzung. Sie hätte es sofort ablehnen müssen, mit diesem Vertrauen belastet zu werden. Dazu war sie angesichts seines außerordentlichen Zustands nicht fähig. Wie jetzt diesen Albtraum loswerden, Exzellenz? Ich habe das Gefühl, ich brauche Sie, Exzellenz.
    Er stand auf. Ging, die Hände auf dem Rücken, hin und her. Die Rechte hatte das Handgelenk der Linken fest im Griff. So ging er immer, wenn ihm daran lag, kein bisschen gebeugt zu wirken. So ging er, wenn er die aufrechte Haltung brauchte, für die er berühmt war. Musste sie begreifen, konnte sie begreifen, dass er jetzt nicht andersreagieren konnte? Er sah hin zu ihr. Und staunte. Sie war in einer ganz anderen Stimmung als er.
    Sie rief noch einmal: Exell-e-enz! Sie parodierte jemanden, der einem Schwerhörigen ruft. Sie war auch aufgestanden, trat ihm in den Weg. Sie standen vor einander, Goethe sagte:
    Ach ja.
    Sie sagte: Heute morgen ein Billet, er sei auf dem Weg nach Paris. Und er wünsche ein glückendes Leben und ein ebensolches Wiedersehen. Et il y a quelque chose dans l’air. Entre nous. De Ror. Zum Glück ohne den Vornamen.
    Goethe sagte, und ihm war plötzlich kämpferisch zumute: Ulrike, Sie sind willkommen.
    Also gerettet, sagte sie rein fröhlich, geradezu übermütig. Hinreißend übermütig.
    Sie griff nach seinen Händen. Sie hob seine Hände. Dass ihn das näher zu ihr hinbrachte, war vielleicht nicht beabsichtigt. Wenn er sie jetzt küsste, imitierte er den, konkurrierte er. Wurde vergleichbar. Mit dem. Er zog sie ein wenig, wenn sie

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