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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Schuberts anmaßende Musik.
    Er konnte nicht sitzen bleiben. Auch Julie von Hohenzollern stand auf. Stehend hörten sie zu. Dann umarmten sie beide die Sängerin. Er küsste ihr die Hand. Als er sich wieder aufrichtete, riss sie ihn an sich, küsste ihn auf den Mund, lachte fast schrill und sagte:
    Zelter hat’s befohlen. Einen Gruß, hat er gesagt, und was sich darauf reimt. Da kann er doch nur Kuss gemeint haben. Sie sah fragend zwischen der Fürstin und Goethe hin und her.
    Beide nickten. Goethe stellte sich dicht vor Lili hin und sagte so leichtfertig wie möglich:
    Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte,
    Welche Wonne gäb’ mir dieser Blick!
    Und doch, wenn ich, Lili, dich nicht liebte,
    Wär’, was wär’ mein Glück?
    Lili drehte sich einmal in einer Art Pirouette um sich selbst und rief: Tausend Dank, Exzellenz.
    Goethe, im hellsten Ton: Das war siebzehnhundertfünfundsiebzig.
    Das war’s überhaupt, rief die Fürstin.
    Lili rannte zur Tür, drehte sich noch einmal her und sagte: Bevor ich alles falsch mache, adieu! Und sehr leise, fast beschwörend: Bis Berlin. Und sagte sogar noch: Grüßen Sie Ulrike von mir. Und war draußen.
    Die Fürstin nickte und sagte: Das war Lili Parthey. Und buchstabierte den Namen. Dann sagte sie: Das Leben ist keine Kleinigkeit.
    Goethe ergänzte: Ach ja.
    Sie haben’s geschafft, sagte die Fürstin, Sie müssen nur noch Ach ja sagen.
    Und Goethe im Ton, als sei er überrascht: Ach ja!?
    Und sie: Womit die universale Brauchbarkeit von Ach ja bewiesen ist.
    Ach ja, sagte er fast seufzend.
    Die Fürstin ging, er ging zum Fenster und winkte den beiden, die heraufwinkten, zu. Dann waren sie verschwunden. Er sah nur noch das Klebelsberg’sche Palais. So einschönes Gewitter, diese Lili, und   …? Und nichts. Konversation. Routine. Er hatte, auch als sie das Lied gesungen hatte, nur an Ulrike gedacht. War er verloren? Wenn er nicht loskäme von ihr, wäre er verloren. Weil er sie verloren hatte. An einen Vornamenlosen. Jetzt bei Tageslicht war der Verlust viel schärfer spürbar als die Nacht hindurch. Die Nacht war gnädig gewesen mit ihm. Aber jetzt, die Fülle des Lichts, dort die umstehenden Höhen, dort hinunter die Allee, die zum Kreuzbrunnen führt, jeder Baum dieser Allee war Zeuge, wie er mit Ulrike gegangen war, jeder Baum würde, wenn er jetzt hinunterging, fragen: Was ist los? Wo ist sie? Er würde nie mehr durch die Allee gehen. Nie mehr zum Kreuzbrunnen. Die humorvollen Blicke und das teilnehmende oder schadenfrohe Getuschel der Promenierenden wollte er nicht ertragen müssen. Was schlimm ist, wird erst durch die Umwelt so schlimm, wie es ist. Und stand immer noch am Fenster.
    Tatsächlich erschien drüben auf der Klebelsberg-Terrasse sie. Ulrike. Er rührte sich nicht. Sie hatte ihn ohnehin schon gesehen. Sie sah herüber, herauf. Dann hob sie langsam die Arme. Hob sie so hoch, wie nur sie Arme mühelos hochheben konnte. Das sah bei ihr dank der Unabhängigkeit ihrer Glieder aus, als seien menschliche Arme nicht dazu da, links und rechts hinunterzuhängen, als seien sie erst, wenn sie steil hochgehoben waren, in ihrer von der Natur gewollten Stellung. Die Schwerkraft galt nicht für diese Arme, das war’s. Das war es überhaupt. Wie ja auch das ganze Geschöpf so leicht war, dass man es keinem stärkeren Wind ausgesetzt sehen wollte. Und jetzt ließ sie ganz oben die Hände winken. Das sah auch aus wie nicht von ihrgewollt. Die winkten von selbst. Vielleicht ein Luftzug. Er hob jetzt seine Arme, seine Hände, so langsam, so schwer, als sei es noch nicht sicher, ob ihm Arme und Hände gleich wieder niederfielen, dann aber für immer. Sie deutete mit einer Hand auf sich, mit der anderen zu ihm, er verstand und antwortete mit Gesten: Bitte, dann kommen Sie halt. Und sie kam. Sie rannte fast. Auch die Treppe herauf hörte er sie rennen. Trat ein und sagte:
    Sie sind einfach verschwunden, Exzellenz. Da schaut man einmal nicht hin, und weg sind Sie.
    Ach ja, sagte er. Ich wollte dann doch nicht länger stören.
    Wen, sagte sie.
    Sie, sagte er.
    Ach ja? Sagte sie fragend.
    Ja, sagte er.
    Stören, sagte sie. Exzellenz, stören, das haben Sie doch gar nicht gelernt.
    Eben, darum sei er doch gegangen. Wäre er nicht gegangen, hätte er gestört. Und sprach gleich den Namen aus. Das musste sie jetzt schon ertragen.
    De Ror, wiederholte sie. Ein schneller Mensch, dieser Herr de Ror, sagte sie. Und erklärte, der Vornamenlose sei immer nur bis Mitternacht vornamenlos. Um

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