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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Hier dieses gefangene Hin und Her!Wann, bitte, war er so ohnmächtig gewesen? Er musste sich seine Gedanken gefallen lassen. Je strikter er sich gegen diese Gedanken wehren wollte, desto krasser beherrschten sie ihn. Also, wehr dich doch nicht so. Elend, das alles naseweis vorweg romanmäßig geschrieben zu haben, zum Beispiel dass jede Bedingung, die unseren aufkeimenden Leidenschaften in den Weg tritt, sie schärft, anstatt sie zu dämpfen, und dann, wenn es dir in Wirklichkeit passiert, bist du nichts als ein Fetzen Jammer und Ohnmacht.
    Er musste mit seiner ganzen Gedanken- und Willenskraft den Entschluss durchsetzen, nicht mehr hinüberzuschauen. Aber plötzlich stand er wieder am Fenster, öffnete es und lehnte sich fast hinaus, um noch genauer zu sehen, dass er nicht sah, was drüben vorging. Zurück, weg vom Fenster, sag dir, dass du dir diese auf dich wartende Enttäuschung nicht noch einmal zuziehen darfst. Und fand sich wieder am Fenster, hinüberschauend. Er sah ein, dass es töricht sei, von sich etwas Unmögliches zu verlangen. Er übte, den zeitlichen Abstand zwischen den Fenstergängen zu vergrößern. So hoffte er, irgendwann gar nicht mehr ans Fenster zu müssen. Das lag ihm, von sich etwas zu verlangen, was er als verlangbar empfinden konnte. Der Vorsatz, NIE MEHR zum Fenster zu gehen, war falsch, war künstlich gewesen, schon als Vorsatz eine Lüge. Das NIE MEHR macht dich zum Lügner. Aber jedes Mal ein bisschen länger sitzen zu bleiben war ein Programm, das mit Aussicht auf Erfolg praktiziert werden konnte. Bitte, bisher warst du doch immer daran interessiert zu erkennen, was dir passiert. Vielleicht hat Sohn August recht. Er war Rokoko. Jetzt, mit einem Mal, gibt es den Ernst. Sich löschenwie das Licht. Das wär’s gewesen. Die elenden Veranstaltungen, die da verlangt werden. Pistole, Gift, Strick. Sich löschen wie das Licht. Aus. Das Hohngeheul hörst du nicht mehr. Hat er es endlich geschafft, seinen Werther zu imitieren. Des Hohns derer, die es nicht erlebt haben, konntest du immer sicher sein. Entkommensein, zu Büschen, Fischen, himmlischen Unerreichbarkeiten. Das wird sie am meisten ärgern, dass du die Unerreichbarkeit erreicht hast. Lass regnen, Herr, und sei’s Feuer. Auf mich.
    Stadelmann klopfte. Dann war es fünf. Stadelmann hatte das Wasser vom Brunnen geholt. Er war gewohnt, es seinem Herrn ans Bett zu bringen. Goethe rief, dass er das Glas draußen hinstellen solle.
    Wenn sie jetzt eine Frau ist, was heißt das? Es meldete sich ziemlich eifrig ein Misstrauen gegen Frauen, das aus Erfahrungen stammen wollte. Was du falsch gemacht hast, siehst du an dem Vornamenlosen. Du weißt es doch auch, die Frauen, dass man sie erobern muss. Dass sie besessen sein wollen. Dass man mit ihnen macht, was man will. Diese Auslieferung der Frau ist nicht eine Unterwerfung, ein Dienst dir zuliebe, das ist ihr der Genuss selbst. Diese Rückhaltlosigkeit hast du ein einziges Mal erlebt. Durch Christiane. Sie hat ihre Rückhaltlosigkeit auf dich übertragen. Du wurdest ein Mann, wie es andere vielleicht von selbst sind. Du brauchtest eine Christiane, neinneinnein, nicht eine Christiane, die Christiane brauchtest du, die einzige. Aber als sie mit den Franzosen tanzte und mehr als tanzte, da war es kein Schmerz, sondern eine Mobilisierung der Melancholie, die ohnehin darauf wartete, geweckt zu werden.
    Als er wieder einmal hatte ans Fenster gehen müssen – und er ging jetzt schon, ohne es sich noch übelzunehmen   –, meldete von draußen Stadelmann, das Frühstück sei serviert. Er hatte es aus dem Traiteur-Haus geholt. Fast gereizt, auf jeden Fall lauter als nötig, rief er hinaus, Stadelmann solle alles wieder abräumen. Essen, trinken, den Tag gelten lassen – nein, er musste sitzen und versuchen, nicht zu denken, nichts zu denken. Er stand jetzt nur noch am Fenster. Er konnte sich nicht mehr wehren. Also wollte er sich nicht mehr wehren. Dass er in Gefahr war, spürte er, aber er wusste nicht, wie er ihr entgehen sollte. Er würde am offenen Fenster stehen und das Klebelsberg-Palais anstarren, bis sie ihn abtransportieren würden, wohin sie wollten.
    Dann dieser Ruf von unten herauf. Er erschrak. Er schaute hinunter. Es war Julie, die Hohenzollern-Prinzessin, der er gestern einen Tanz schuldig geblieben war. Da sie eine bittende Geste machte, antwortete er mit einer eleganten Routine-Geste, die bedeutete: Bitte, kommen Sie herauf, ich freue mich auf Ihren Besuch. Dass ihm diese Geste wie

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