Ein liebender Mann
wollte, musste sie das gar nicht gespürt haben, aber sie zog ihn auch wieder ein bisschen, dann waren sie so nahe bei einander, dass sie, ohne seine Hände loszulassen, ihn mit ihrem Mund erreichte. Ihre Münder blieben einen Augenblick an einander wie zwei Wesen, die noch nicht wissen, in welcher Sprache sie mit einander sprechen sollen.
Sie hatte noch seine Hände in ihren Händen, als sie sagte: Ach, Exzellenz.
Da konnte er noch sagen: Ich soll Sie von Lili Parthey grüßen.
Oh, sagte sie, das ist aber lieb.
Dann war sie draußen, drunten, drüben. Er war rechtzeitig am Fenster und winkte, als sie winkte, zurück. Das wird er nie vergessen, dass er, als sie an diesem Vormittag ging, rechtzeitig am Fenster war, dass er winkte, dass sie zurückwinkte. Was sind dagegen ägyptische Pyramiden! Dann saß er länger und dachte. Das Schönste war, dass sie, als ihre Münder sich einander näherten und dann einander berührten, dass sie da ihre Augen geschlossen hatte. Er hatte nie eine innigere Intimität erlebt als diese geschlossenen Augen.
Etwas anderes als diese geschlossenen Augen konnte er jetzt nicht zulassen. Und musste doch zulassen einen geradezu aufschreienden Gedankenandrang: Er als Küssender, nie zurückgestoßen. Er hatte nie eine Frau, ein Mädchen an sich gerissen, nie seinen Mund auf ihren Mund, in ihren Mund gedrückt. Küssen nie ohne Anfangsscheu, ja, Andacht, egal, wie davor geredet worden war. Sein Mund und ihr Mund wuchsen auf einander zu, ohne Willensbeteiligung, kein Hauch Theater. Herr Vornamenlos spielt den Leidenschaftlichen. Wie hat Ulrike das erlebt? Wie kommt es ihr jetzt vor? Wie kommt er ihr jetzt vor? Fragen kann er sie nicht. Nur beobachten. Ist sie noch die Ulrike, die sie vor dieser Szene war? Frau von Stein hatte, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte, gesagt: Sie küssen geistreich, mein Herr. Wie Ulrike, als ihr Mund und sein Mund sich einander geistreich genähert hatten, wie sie die Augen geschlossen hatte, das war die innig schönste Antwort auf das Leidenschaftstheater des Vornamenlosen. Vielleicht wären Ulrike und er einander ohne dessen Brachialtheatergar nicht so nahe gekommen. Er wird mit Ulrike die Szene nachspielen, sie werden, wenn ihre Münder hart auf einander treffen wie in der de Ror-Szene, aus einander fahren, einander anschauen und lachen. Iffland-Komödie. Nachmache des Boulevards in Paris. Da hat der das her. Lachen werden sie. Gemeinsam. Diese Vorstellung machte ihn froh. Er würde von jetzt anstatt Ach ja nur noch Ach, Ulrike sagen. Und zwar so, dass es die ganze Welt hören musste. Hoch und hell und heiter, ein nicht enden könnendes Seligkeitssignal! Ach, Ulrike! Das -i - in ihrem Namen hoch hinausgeschrien.
5.
Das ging so hin. Er war wieder unzertrennlich von Ulrike, Ulrike unzertrennlich von ihm. Als er ihr an dem Tag des ersten Kusses nachgeschaut und sie gewinkt und er zurückgewinkt hatte, setzte er sich an den Schreibtisch, wissend, dass dieser Stimmungsandrang nur schreibend zu beantworten war. Zuerst ließ er einfach die Routine herrschen, das heißt, es musste sich reimen. Da stand dann auf dem Blatt:
Du hattest längst mir’s angethan,
Doch jetzt gewahr’ ich neues Leben:
Ein süßer Mund blickt uns gar freundlich an
Wenn er uns einen Kuß gegeben.
Diesen Routine-Auslass schickte er gleich dreimal aus dem Haus: An Lili, noch am Ort. An die Schwiegertochter Ottilie in Weimar. Und an Ulrike vis-à-vis. Sich selber erklärte er den Dreifachversand damit, dass es sich um nichts als eines der hundert oder tausend Gelegenheitsgedichte handle, die einfach anfallen, die aber sein müssen, die dazugehören. Allerdings, das Gedicht bekommen nur Personen, die wissen, warum sie es bekommen. Auch zwischen ihmund Ottilie hatte es einen Kuss gegeben. Bei der Jungfernfahrt mit seiner neuen Kutsche, diesem Wunderwerk der Leichtigkeit. Daran sollte sie gerade jetzt denken. Ja, dachte er, Metternich könnte es nicht klüger knüpfen.
Ottilie schrieb er dazu, dass hier alles freundlich sei wie immer, Stadelmann klopfe im Gebirge herum. Noch ein Ball beim König von Württemberg, dann werden die Ballkleider eingepackt, für die Hüte wird eine sie unversehrt lassende Beförderungsmöglichkeit gesucht, das hiesige Märchen wird ausgespielt sein, er bleibt noch bis zum 20., die Einsamkeit wird ihm helfen, manches, was er durch zu viel Geselligkeit versäumt hat, nachzuholen. Auch dem Sohn August schrieb er einen harmlos bleibenden Allerweltsbrief. Dass
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