Ein liebender Mann
jetzt melden, sein linkes Auge nehme sich, jeder Symmetrie trotzend, heraus, empfindlicher zu sein als das rechte; dieses Auge habe sich wohl entzündet, er müsse sich eher formlos empfehlen. Und ging, die Rechte vor dem Auge behaltend.
Er kannte sich einigermaßen aus in sich und wusste, dass er sich in dieser Nacht nichts abverlangen konnte. Vor allem keine Himmelsrichtung. Nur nicht nach Weimar. Er wusste nicht weiter. Er wusste die ganze Nacht nicht weiter. Eine Nacht, in der man nicht weiterweiß, zieht sich hin. Sein Kopf lag so schwer auf dem Kissen, als presse er ihn mit aller Kraft in das Kissen hinein. Aber der Kopf war von selber so schwer. Zu Straßburg auf der Schanz, da ging mein Trauern an …
Zum Frühstück erschien er gefasst. Graf Sternberg sagte, er reise heute auch weiter. Dabei hatte Goethe noch nicht gesagt, er werde abreisen. Aber Sternberg konnte im Gesicht des Freundes lesen. Grüner erschien, händigte Goethe ein Kuvert aus und sagte, darin sei die Abschrift des Zwiegesangs, im Fall Seine Exzellenz davon Gebrauch machen wolle. Grüner verabschiedete sich. Er sagte am Schluss: Auf ein freudiges Wiedersehen. Als der Graf fragte, wann der nächste Wagen nach Karlsbad gehe, sagte Goethe, ohne überlegen zu können: In einer Stunde. Stadelmann und ich erwarten Sie.
Im Wagen schützte Goethe sein linkes Auge anfangs noch mit einem Tuch. Das Auge war entzündet. Ein wenig. Er hatte es im Spiegel geprüft. Um ein Uhr in Eger abgefahren, noch nicht ganz vier in Karlsbad. Als sie vor demGoldenen Strauß hielten, gab es kein entzündetes Auge mehr. Goethe gratulierte Stadelmann. Stadelmann lachte.
Während der Fahrt hatte der Graf Goethe wissen lassen, ohne es ihm direkt zu sagen, dass die Levetzows von seiner, des Grafen Ankunft informiert seien. Das hatte er im Gespräch so untergebracht, als wisse er, dass Goethes Ankunft dort nicht bekannt sei. Goethe war nicht aufgelegt, sich selber so feinfühlig zu behandeln, wie der Graf ihn behandelte. Er sagte einfach, wie es war. Er sagte das nicht so, dass der Graf sich zu Mitgefühl und Trost verpflichtet fühlen sollte. Gerade dem versuchte er durch eine kühle Berichterstattung zuvorzukommen. Er kam sich selber kein bisschen bemitleidenswert vor. Dass sein Graf Sternberg jetzt mit ihm nach Karlsbad fuhr, war ein Weltwunder schönster Fügung, ein Beweis, dass er, Goethe, ein Günstling des Schicksals war. Unvorstellbar, wie es wäre, wenn er heute hätte allein von Eger nach Karlsbad fahren müssen. Es hätte stattgefunden. Er wäre hingefahren. Allein. Er musste Ulrike befreien aus dem Familiengefängnis. Sein und Ulrikes Leben darf nicht geopfert werden einer wie auch immer edlen mütterlichen Beschränktheit. Ulrike erwartet das von ihm.
Da er mit dem Grafen zusammen dort ankam, war die Ankunft etwas Gesellschaftliches. Überraschend, bitte. Aber in diesen Kreisen und beim launenreichen Goethe doch durchaus denkbar. Ihn entlastete es. Fast mehr als nötig. Allein dort anzukommen, das wäre der Blitzschlag der Leidenschaft an einem Sommertag, an dem kein Gewitter angesagt war. Das hätte er denen gern zugemutet. Wem denen? Allen. Der Welt, der immer neugierigen.
Im Goldenen Strauß in der Alten Wiesenstraße kannte man beide, für beide war Platz, beide wurden behandelt, als hätten sie die Zimmer bestellt gehabt. Goethe erfuhr, ohne zu fragen, seine Zimmer seien, wie im vergangenen Jahr, ein Stockwerk über den Zimmern der Familie von Levetzow. Und das soll einen nicht rühren! Ein Hotelier geht mit dir um, dass die ganze Welt von ihm lernen könnte, wie man mit einem Reisenden umgehen muss. Ein Reisender ist immer verwundet. Der Hotelier weiß es. Der Hotelier ist der Notarzt der Seele. Schrecklich, wenn du ihm etwa erzählen müsstest: Es steht so und so, bringen Sie mich bitte da und da unter. Nicht im Goldenen Strauß, der richtiger gar nicht heißen konnte. Und wurden bei Levetzows angemeldet und durften eintreten und blieben beide an der Tür stehen, jeder dem anderen den Vortritt lassend. Der Graf erspürte, dass sein Erscheinen hier harmloser sei als das Goethes, und ging auf die Familie zu, die sich jetzt vor Sessel und Tischen aufgestellt hatte und begrüßt werden durfte. Der Graf tat’s in vollkommener Form. Er konnte von seiner Ungarn-Reise Grüße überbringen aus dem und dem Schloss, von dem und dem Vetter. Die Grüße wurden mit hohen Tönen entgegengenommen. Dann stand der Graf so bei der Familie, als gehörte er für
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