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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Zwanzigsten würde er fahren. Am Zwanzigsten fuhr er. Er konnte hier nichts mehr tun. Und ohne Tätigkeit war er Gedanken ausgeliefert, gegen die er sich nicht wehren konnte. Es stellte sich ganz von selbst in ihm eine Art Entschluss her. Er konnte sich nicht vorstellen, morgen hier abzureisen, wissend, dass er nach Weimar fahre. Dass er morgen nur nach Eger fahren würde, war also klar. Er hatte auf dem Weg von Weimar ins Böhmische und auf dem Weg zurück immer in Eger Halt gemacht und den Kriminalrat Grüner in Eger besucht. Das würde er auch morgen tun. Der Kriminalrat war ein Entdecker und ein Sammler von Gewesenem. Und ein Verehrer. Aber nicht auf die anbeterische Art, die einen an sich selbst zweifeln lassen könnte. Beide hatten Leidenschaften gemeinsam. Grüner hatte mit ihm immer Ausflüge in die Gegend gemacht, Ausflüge in die Landschaftsgeschichte. Grüner konnte die Landschaft lesen. Die Steine, die Bäume, die Bäche, die Mauern. Er studierte alles Vorkommende. Sprachen, Leute, Möbel, Wind und Wetter. Und wenn es nötig war, machte er Gedichte, und Goethe sollte sie lesen. Dass es nur Augenblicksfesthalte-Gedichte oder gereimteDokumentationen eines außersprachlichen Vorkommens waren, wusste er. Der Kriminalrat strahlte eine Bescheidenheit aus, die für Goethe, der sonst eher von Ichsüchtigen umgeben war, eine Wirkung hatte wie Wasser frisch von der Quelle. Goethe hatte in seinen von dem Abschied auf der Terrasse noch attackierten Gedanken festgestellt, dass er im Augenblick überhaupt nicht über Eger hinausschauen könne. Nach Eger zu fahren, den von seinem Besuch verständigten Grüner besuchen. Mehr Richtung war nicht zu ertragen.
    Aber am Tag vor der Abreise fand er noch eine Tätigkeit, beziehungsweise die Tätigkeit fand ihn. Er schrieb. Abends stand auf dem feinsten Papier, das Stadelmann hatte auftreiben können, sein Tagwerk. Er las es nicht nur, er betrachtete es. Und das war es, was er betrachtete:
    Für innige Theilnahme
    an meinen Gesängen
    dankbar zu freundlichem Erinnern
    genußreicher Stunden.
     
     
    Liebeschmerzlicher Zwie Gesang
    unmittelbar nach dem Scheiden
    Er.
    Ich dacht’ ich habe keinen Schmerz
    Und doch war mir so bang um’s Herz,
    Mir war’s gebunden vor der Stirn
    Und hohl im innersten Gehirn –
    Bis endlich Thrän’ auf Thräne fließt,
    Verhaltnes Lebewohl ergießt. –
    Ihr Lebewohl war heitre Ruh,
    Sie weint wohl jetzund auch wie du.
    Sie.
    Ja, er ist fort, das muß nun sein!
    Ihr Lieben, laßt mich nur allein,
    Sollt’ ich euch seltsam scheinen,
    Es wird nicht ewig währen!
    Jetzt kann ich ihn nicht entbehren.
    Und da muß ich weinen.
    Er war glücklich. Das war ein Tag nach seinem Sinn. Hingegeben einem Gefühl, das noch keine Wörter kannte, ihn aber beim Wörterfinden unmissverständlich leitete. Alles, was diesem Gefühl nicht entsprach, blieb nicht auf dem Papier. Das war das Schönste beim Schreiben, besonders beim Gedichteschreiben: die vollkommene Sicherheit des Zustandekommens. Egal, was dann irgend jemand zu dem Ergebnis sagen würde, für ihn war glücksentscheidend, dass das, was nachher da stand, ganz dem Gefühl entsprach, das ihn beim Schreiben geleitet hatte. Dieser unirritierbare Stimmungsverlauf: als gäbe es den Text schon, bevor er ihn fasste, und er musste nur ihn finden. Und wenn er ihn fand, dieses Erlebnis der Vollkommenheit. Kein Wort konnte anders heißen oder an einer anderen Stelle stehen. Gut, Erfahrung sagte, morgen oder in einer Woche kannst du das anders sehen oder empfinden, aber heute, heute bist du eins mit dem vollkommenen Gedicht, das da steht. Die Vollkommenheit des Textes erfährt eine Steigerung durchdas, was da auszudrücken war. Das Gefühl, das ihn leitete, war zuerst ein Schmerz, ein haltloses Weh, eine scheußliche Zumutung, ein elendes Verlassensein, eine grelle Lebensunmöglichkeit. Dass diese entwürdigende Niedergeworfenheit in ein Gefühl fand, das dich von Wort zu Wort leiten konnte bis zum Schluss, das ist das Glückswunder des Schreibens. Ulrike, hören Sie mich! Hörst du mich? Wenn du mich jetzt hörtest, wärst du mir sehr nahe. Eine Einverstandenheit verbände uns, die auf den Namen Untrennbarkeit getauft ist. Ulrike.
    Er las und las sich vor, was er geschrieben hatte, und war glücklicher als glücklich, weil er aus vielen Begegnungen wusste, Kriminalrat Grüner würde, wenn er sich diesen Text lesend erschloss, an dem sich so ausdrückenden Gefühl teilnehmen. Unvorstellbar, diese Zeilen jetzt

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