Ein liebender Mann
verkohlten Stamm gestoßen. Seine Arbeiter seien so geschult, dass sie ihn von einem solchen Fund sofort verständigten. Den Stamm hat er jetzt vorsichtig ringsum aufgraben lassen, er wird ihn demnächst untersuchen. Warum ist dieser Stamm nicht zu Kohle geworden, und wie lange ist das her. Das interessiert ihn. Ein Paläo-Botaniker ist ein Historiker, der sich nicht für Könige und Schlachtfelder interessiert, sondern dafür, wie es den Pflanzen die ganze Zeit ergangen ist.
Goethe setzte sich immer so, dass er neben der Mutter saß und Ulrike ihm gegenüber. Er musste Ulrike sehen können, ohne hinschauen zu müssen. Er musste ihren Blick suchen. Sobald sie einander anschauten, hörte er nur noch von fern, was gesprochen wurde. Ulrike sorgte dafür, dass ihre Augen und seine Augen einander rechtzeitig wieder verließen. Auffälliges Interesse zeigte sie, wenn der Graf über den Fortschritt der Ingenieurwissenschaften sprach.
Da zu seinen Besitzungen auch diese und jene Fabrik gehöre, tue er, was er könne, diese Wissenschaften zu fördern.
Ulrike fragte, ob sie so eine Fabrik besuchen könne, am liebsten eine, in der Spinnerei oder Weberei betrieben werde, wo Frauen und Mädchen arbeiteten, vielleicht sogar an Maschinen.
Der Graf war begeistert von der Aussicht, sie durch seine Betriebe führen zu dürfen.
Ulrike verwies auf den Rock, den sie gerade trug, rot und durch massive, einander schneidende grüne Linien so gemustert, dass Karos entstanden. Schottisch, sagte sie, fühlen Sie dieses Tuch, das ist doch paradiesisch. Die Schafe können wir auch haben, der Rest ist erlernbar.
Zu Goethe gewendet, sagte der Graf: Ich sehe, Sie staunen. Es ist immer mehr möglich, als wir glauben. Vielleicht interessiert es in diesem Kreis, dass mir aus London berichtet wird, Ada Byron, die Dichter-Tochter, wird in London herumgereicht als Wunderkind. Nicht nur in Mathematik, sondern auch in Physik. Sie spricht von programmierbaren Maschinen. Maschinen, denen man Zahlen beibringen kann, nach denen sie dann arbeiten. Das sei ihr Traum.
Ulrike war förmlich elektrisiert von dieser Nachricht.
Der Graf versprach ihr, sie über alles zu informieren, was er erfahre über Ada Byron, die übrigens ganz ohne ihren Vater aufgewachsen sei.
Goethe hatte das Gefühl, er versinke. Ins Bodenlose. Auf so vielen Seiten hat er in seinem Wanderjahre-Buch das Handwerk gefeiert, das Spinnen, das Weben, mit allen Arbeitswörtern, wie es vor ihm noch keiner getan hat. Dass es nach ihm keiner mehr tun wird, weiß er jetzt. Diesen Trieb zum Maschinellen hat er nicht unterschlagen, aber seinen Roman-Menschen machen die anrückenden Maschinen Angst. Sie sehen die Ödnis, die sich ausbreiten wird, wenn die Menschen aus den Tälern fliehen, weil ihnen die Maschinen die Arbeit abgenommen haben. Seine Arbeitswelt war ein Museum. Die Zukunft heißt Ada Byron! Ulrike und der Graf, die beiden liebsten Menschen, die er kannte, waren die Zukunft. Er spürte nicht die geringste Lust, was er geschrieben hatte, jetzt zu verteidigen. Er liebte Ulrike, er liebte den Grafen. Zu ihnen wollte er gehören. Zu jedem Verrat bereit. Das Leben. Die zwei waren das Leben. So saß er dabei. So fühlte er. So war es ihm möglich, was er geschrieben hatte, nicht zu verteidigen.
Als er mit dem Grafen allein war, holte der aus seinem Zimmer das Lötrohr, das ihm der schwedische Chemiker Berzelius geschenkt hatte. Er wollte Goethe zeigen, wie leicht es sei, mit diesem Gerät in Steinen Titanspuren nachzuweisen. Er wusste, Titanspuren waren in diesem Sommer Goethes Lieblingsthema. Um so erstaunter war der Graf, dass Goethe dann bat, diese Untersuchungsmethode doch lieber Ulrike vorzuführen. Der Graf stutzte. Das war dochein recht merkwürdiger Vorschlag. Goethe schüttelte einfach den Kopf.
Am nächsten Tag konnte er dem Grafen ohne Verklausulierung sagen, dass das Fräulein von Levetzow jetzt alles in ihm besetzt halte, keines seiner ehedem so vielfältig gepflegten Interessen habe überlebt. Übrig geblieben sei das Interesse für Ulrike von Levetzow. Dem Grafen könne er es sagen, weil der es ohnehin wisse.
Der Graf drückte ihm die Hand und sagte: Was uns interessiert, belebt uns. Und je mehr es uns interessiert, desto mehr belebt es uns. Gleichgültig, wofür jemand sich interessiere, wichtig sei doch allein, wie sehr.
Sie reden mit mir über mich, sagte Goethe, wie ich sonst mit anderen über andere.
Jetzt sage ich gleich, sagte der Graf lachend, Dero
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