Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
ihm sitzen bei dieser Jungfernfahrt. Ihr Mann, sein Sohn August, hatte zu Hause zu bleiben. Tatsächlich habe diese brausende, schwingende, manchmal auch sich riskant anfühlende Fahrt ihn und seine Schwiegertochter fast zu nahe zusammengebracht. Als sie zurück waren in Weimar, die Einfahrt am Frauenplan passiert hatten, er Ottilie im Hof herunterhalf, da habe er gesagt: Das war veloziferisch. So sei dieses Wort, das seitdem als eines seiner Wörter kursiere, in die Welt gekommen. Dem Grafen müsse er’s ja nicht übersetzen, Ottilie aber schon. Velocitas und Luzifer. Das verstand sie.
    Ein schönes Wort, sagte der Graf, und es drückt doch auch schon aus, was auf uns zukommt. Zukommen muss. Solange er in diesem Wagen sitze, wolle er ihn, sagte er, nicht verteufeln.
    Goethe sagte, ohne einen Fahrer wie Stadelmann möchte er mit dieser vierräderigen Leichtigkeit nicht unterwegs sein. Sehen Sie, wie er auf jede Wassermulde zu- und immer mitten hineinfährt in die größten Löcher, so kann er nie umwerfen. Er habe zu Stadelmann einmal gesagt, wenn er Napoleon hätte einen Gefallen tun wollen, hätte er ihm ihn als Leibkutscher geschenkt. Und er, habe Stadelmann gesagt, hätte sich lieber am nächsten Ast erhängt, als sich von Goethe zu trennen.
    So kamen sie nach Eger, das Wetter wurde besser, die Zimmer im Gasthof Sonne waren bestellt, Kriminalrat Grüner kam, es folgte ein Abend ohne Harm. Als Grüner ging, gab ihm Goethe im Kuvert den Schmerzlichen Zwiegesang mit und sagte dazu, der Herr Kriminalrat sei so sehr von seiner, Goethes, Zunft, dass er, wenn er das lese, nicht vom Mitleid überwältigt werde, sondern, das hoffe er, von der Kunst.
    Am nächsten Morgen drückte der Kriminalrat in einer eher spröden Umarmung aus, wie sehr er dafür danke, dass Goethe ihn hineingenommen habe in sein Inneres. Und dass er das so einfach sagen konnte, meldete Goethe, dass seine Sommerblüte auch in Eger aufgegangen war.
    Drei Tage lang waren sie dann unterwegs im Gelände. Goethe war wach und dabei, als gebe es nichts anderes als Kalksteinbrüche, Mergel, Gneus und Granit, Idokras, der hier Egran heißt, Rauchtopas, Bleispat mit deutlichen Kristallen, Amethyste, alles aus der Nachbarschaft. Und Goethe bestellte vorsorglich von Grüners Duplikaten Stücke für seine Sammlung in Weimar. Versprach ihm dafür einen großen Granulat aus Sibirien, den er dreimal hatte. Waren sie unterwegs, konnte er plötzlich halten lassen, stieg ab, ging hin zu denen, die das Korn mähten und gerade ihre Sensen wetzten, und fragte sie, woher sie die Wetzsteine hätten. Die Männer wussten nur, dass die Wetzsteine auf dem Egerer Markt zu kaufen seien. Weil nun Goethe sagte, die könnten um Weimar herum nützlich sein, versprach der Kriminalrat die Besorgung.
    Goethe übertrieb sein Interesse an gar allem. Er musste sich beweisen, dass er stundenlang von Ulrike wegdenkenkonnte. Wenn nicht stundenlang, dann doch minutenlang.
    Als sie am dritten Abend wieder saßen, das Egerer Bier lobten und einander mit Mitteilungen aus jeder Art von Geschichte übertrafen, auf das freundlichste übertrafen, gab der Kriminalrat bekannt, er pfropfe unersättlich, wie er nun einmal sei – allerdings erst geworden sei, als er gemerkt habe, dass die Welt, wo du sie anrührst, vor Geschichte strotzt, die Welt ist eine Erzählerin, rief er, auch vom Bier bewegt   –, er pfropfe also unersättlich gerade einen neuen Forschungszweig auf seinen grünen Lebensbaum, Volkslieder. Er bitte zur Zeit jeden in Frage Kommenden, ihm zu helfen. Allein schafft das keiner. Beispiel: Da gibt es ein Volkslied, er hat sogar eine Melodie dazu im Kopf, aber vom Text hat er nur noch den Anfang.
    Heraus mit dem Anfang, sagte Goethe, den Rest besorgen Graf Sternberg und meine Wenigkeit.
    Der Kriminalrat summte halb, halb sprach er: Zu Straßburg auf der Schanz, da ging mein Trauern an   …
    Goethe presste sofort seine rechte Hand auf sein linkes Auge, als müsse er es schützen. Als er merkte, dass Grüner ihn anschaute, drehte er den Kopf zum Grafen hin, ohne sein linkes Auge freizugeben.
    Der Graf: Ist bekannt, natürlich. Und summte auch die Melodie. Ja, rief er, das muss das Lied eines Schweizers sein, eines in der Fremde als Soldat Dienst tuenden Schweizers. Und sang weiter: Das Alphorn hört’ ich drüben wohl anstimmen   …
    Jetzt suchten beide nach weiteren Wörtern.
    Da heute das Wetter wieder rau genug war, der Ostwindsie gelegentlich richtig angefaucht hatte, konnte Goethe

Weitere Kostenlose Bücher