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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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dichterfürstliche Hoheit meinen es zu gut mit einem fleißigen Ingenieur, der in seinem Leben noch kein einziges Wort dazu gebracht hat, sich auf ein anderes zu reimen.
    Das war geradezu eine Aufforderung, dem Grafen zu sagen, dass sich das jederzeit ändern könne. Und er erzählte ungehemmt, was geschehen war, als er Ulrike den Schmerzlichen Zwiegesang gegeben hatte. Die Abschrift. Nachdem er geprüft hatte, dass sie dem Original vollkommen gleich war. Und sagte den Zwiegesang ganz auf. Wie aber hatte die von Maschinen schwärmende Ulrike reagiert. In ihrem muntersten Ton hatte sie gesagt: Obwohl Sie zwei Zeilen weniger bekommen hat als Er, fühlt Sie sich sehr ausgedrückt. Aber die Ihr vorenthaltenen zwei Zeilen müsse sie beanspruchen. Zum ersten Mal in ihrem Leben habe sie gedichtet. Und hatte die zwei Zeilen gesagt:
    Die Tränen schick ich ihm in einer Arnikablüte,
    Daß er sie, an uns denkend, hüte.
    Der Graf sagte: Sie machen aus uns allen Dichter.
    Goethe sagte: Weil alle Dichter sind.
    Frau von Levetzow war glücklich. Der Graf war ein Unterhalter, der alles erfüllte, was eine Mutter sich nur wünschen kann. Abend für Abend hatte sie den vollkommenen Überblick. Selbst wenn man noch draußen mit Tee vor der Tür saß und der abnehmende Mond über dem Dreikreuzberg aufging, kam keine Stimmung auf, die der Mutter hätte nicht recht sein können, weil der Graf allen Anwesenden den abnehmenden, aber aufgehenden Mond nicht als Stimmungslicht für Verliebte, sondern als spannendes physikalisches Weltraumtheater erklärte.
    Goethe spürte deutlich und schmerzlich genug, wie er Teil einer Inszenierung war, gegen die er sich nicht wehren konnte. Mit Ulrike auf der anderen Straßenseite bei hellem Tageslicht ein wenig an der Tepl entlang in der Wiese spazieren gehen zu dürfen erbat er sich, als handle es sich um die Aufschiebung eines Hinrichtungstermins. Und Frau von Levetzow, die in Marienbad bis zu einem bestimmten Augenblick diese Prachtsfrau und Madame Pompadour gewesen war, ließ ihn für den gewährten Spaziergang in der Wiese mit der Zusage bezahlen, dass er abends den Grafen Wallenski anhöre, der ihm Schreckliches über die Leiden des polnischen Volkes berichten müsse, und das in der Hoffnung, dass der weltberühmte Dichter sofort seine international gehörte Stimme erheben werde, damit die Leiden des polnischen Volkes durch internationale Hilfegelindert oder gar beendet werden könnten. Diese Rolle hatte die Ulrike-Mutter schon in Marienbad oft und gern gespielt: Leuten aus ihren Kreisen ein Treffen mit Goethe vermittelt. Und er hatte wegen Ulrike kein einziges Mal nein gesagt.
    Bei diesem voll kontrollierbaren Wiesenspaziergang nun hatte er Ulrike sagen müssen, dass der Tag bevorstehe, an dem er die schöne Zahl 73 gegen die verletzend eckige Zahl 74 tauschen müsse. Da müsse nun leider er den Spielplan entwerfen. Wenn er morgen den ganzen Tag ununterbrochen in ihrer Nähe verbringen könnte, wäre dieses Sargnageldatum vielleicht sogar einen Tag lang erträglich. Aber sie müsste andauernd sichtbar bleiben. Sein Vorschlag: Morgens um sieben Abfahrt nach Elnbogen. Stadelmann und John sind dann schon dort, die Familie und er treffen ein um neun, im Weißen Ross wartet das Frühstück, großer Spaziergang am rechten Ufer der Eger durch die neu herausgehauenen Felsengänge, die allerdings eng und eckig und kurvenreich sind, so dass nicht einmal Frau von Levetzow in jeder Sekunde alle im Sklavenzustand der Kontrollierbarkeit halten kann, aber länger als neunzehn Sekunden könnten sie ihr keinesfalls unsichtbar werden. Dann Besichtigung des Verwunschenen Prinzen, ein aus dem Himmel oder, wie der Graf sagen würde, aus dem Weltall direkt in den Elnbogener Burgbrunnen gefallener Meteorstein, dann wird gegessen und zurückgefahren, vorausgesetzt: Die Levetzows sind an diesem Tag seine Gäste, Ulrike verspricht, ihm immer sichtbar zu bleiben, und drittens, das Wort Geburtstag und gar damit gemeint sein könnende Zahlen kommen nicht vor.
    Ach ja, sagte Ulrike, deutlich ihn imitierend, parodierend.
    Versprochen, sagte er und hielt die Hand hin.
    Versprochen, sagte sie.
    Als er die Hand wieder freigab, sagte er: Ihrer uns sicher beobachtenden Frau Mutter müssen Sie nachher sofort erklären, dass dieses Händedrücken lediglich zur Bekräftigung eines den morgigen Tag nicht überlebenden Versprechens diente.
    Der Tag lief ab wie programmiert. Allerdings stand auf dem Mittagstisch droben in Elnbogen ein

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