Ein liebender Mann
Goethe auch zu denen, die begrüßt werden sollten.
Goethe begann, weil die auch so standen, bei der Kleinsten. Zuerst, als er schon zwei Schritte auf die Gruppe zugegangen und noch einmal stehen geblieben war, sagte er: Ich habe mich gesehnt nach euch.
Und Amalie sofort: Nach uns oder nach Ulrike.
Nach allen Levetzows, sagte er ganz ernsthaft. Er hattedas Gefühl, dass das zu ernsthaft geklungen hatte, also sagte er deutlich lustiger und nur zu Amalie hin: Nach allen.
Amalie gab nicht nach. Und wie nach mir, sagte sie.
Goethe sah nur sie an und sagte: Wie ein seltener Stein sich sehnt, von dem Mädchen in die Hand genommen und angeschaut zu werden, weil er weiß, nur dieses Mädchen versteht ihn, versteht die Sprache des Steins.
Amalie schien für den Augenblick gesättigt zu sein. Aber Bertha musste jetzt natürlich auch fragen: Und wie nach mir?
Wie der Hirsch, sagte er, der am Verdursten ist, sich nach der Quelle sehnt, die ihn vor dem Verdursten retten kann.
Bertha war vor Staunen sprachlos. In der Reihe folgte jetzt die Mutter. Sie sagte: Wie der Geheimrat sich nach mir gesehnt hat, wollen wir ihm nicht auch noch abverlangen.
Schade, sagte Goethe.
Also bitte, sagte sie.
Und Goethe: Ich habe mich danach gesehnt, Sie um Entschuldigung bitten zu dürfen für eine aus Panik geborene Handlung, deren Peinlichkeit nur noch durch ihre Komik überboten worden ist.
Bravo, sagte die Baronin, ging auf Goethe zu und rief: Napoleon hatte recht: Voilà un homme.
Jetzt waren alle bei ihm, ein Händeschütteln und Umarmen fand statt, aber Ulrike hatte sich nicht gerührt. Als alle das bemerkt hatten und sich jetzt zu ihr hindrehten, ging Goethe auf sie zu, sie drehte sich weg und sagte: Ich muss auch hören, warum Exzellenz sich nach mir gesehnt hat.
Jetzt rührte sich nichts mehr.
Goethe sagte: Aus Liebe.
Sie reichte ihm die Hand, bevor er seine Hand ihr reichen konnte. Vielleicht hätte er so nicht sprechen können, wenn Graf Sternberg nicht dabei gewesen wäre. Was er in Gegenwart dieses Mannes sagte, fühlte sich an wie eine Tat. Der Graf drückte ihm die Hand.
Goethe sagte: Danke. Und ging. So wie man geht, wenn man weiß, alle schauen einem nach.
2.
Er konnte nicht missverstehen, wie Frau von Levetzow seine Anwesenheit organisieren wollte. Zum Frühstück mit der Familie war er willkommen. Das begann um sieben und durfte sich hinziehen bis neun. Er war dann immer schon um sechs am Sprudel gewesen, hatte dort das Wasser getrunken, hatte sich ansprechen lassen von der polnischen Dichterin, die seit Jahren in Karlsbad im September immer darauf wartete, ihm ihre neuesten Gedichte in die Hand zu drücken. Drei Tage später sprach sie ihn wieder an, um zu erfahren, ob sie Fortschritte gemacht habe. Oder sie lauerte schon am zweiten Tag, ob er vielleicht darauf brenne, ihr etwas über ihre Gedichte zu sagen. Es ging ihm immer noch nicht anders. Er hatte vor vielen Jahren nicht ablehnen können, ihre Gedichte zu lesen, und wenn man von jemandem die Gedichte liest, kann man nachher nicht so tun, als habe man sie nicht gelesen. Zum Glück war am Sprudel schon um sechs Uhr viel Publikum. Er musste sich also nie ganz ungestört über die Gedichte äußern. Und bei jeder Zeile, zu der er etwas sagte, sagte sie, wie die Zeile auf Polnisch klinge, die Übersetzung sei nur ein Schatten des polnischen Originals.
Graf Sternberg war immer schon um halb sechs am
Sprudel. Wenn Goethe gar nicht loskam aus einem Gespräch, konnte er dem Grafen einen Wink geben, der Graf kam und befreite ihn auf das höflichste aus den Wörterschlingen des gerade auf ihn Einredenden. Auch Julie von Hohenzollern, die die Saison immer in Karlsbad beschloss, schien nur darauf zu warten, dass er ihr winkte. In Karlsbad, dem steil eingeschnittenen Tal, gab es kein weites Wiesenwannenoval, man musste enger an einander vorbei, war also leichter ansprechbar. Aber wenn Julie von Hohenzollern ihm zu Hilfe eilte, konnte ihm nichts Gesprächliches mehr passieren.
Der Graf nahm an dem, was Frau von Levetzow an Gemeinsamkeit zuließ, erst abends und erst nach dem Essen teil.
Goethe sagte, die Töchter müssten endlich erfahren, dass sie im Grafen einen europaweit berühmten Paläo-Botaniker bei sich hätten. Pal-ä-o-Botaniker, Amalie und Bertha schnappten nach dem Wort wie der Fisch nach dem Köder. Das hatte er gewusst.
Der Graf machte nur zu gerne mit. Gerade, sagte er, seien die Arbeiter in seinem Kohlebergwerk auf einen aufrecht stehenden,
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