Ein liebender Mann
dem Publikum aus aller Welt viel erlebte, hatte er viel zu erzählen. Goethe suchte Ulrikes Blick, aber er merkte, sie machte diesen Abend mit, als schlössen sich noch hundert solcher Abende an. Er schaffte es auch, dass er nicht gefragt werden konnte, ob ihm etwas fehle.
Und heute das letzte Frühstück. Dann der Abschied wirklich. Er hatte Stadelmann mit dem vollbepackten Wagen in die Nähe des Sprudels, vor den Goldenen Löwen bestellt, um neun Uhr sollte er bereitstehen. Goethe wollte nicht als aus dem Wagenfenster winkende Hand in Erinnerung bleiben. Andererseits war es unvorstellbar, dass er allein vom Goldenen Strauß wegginge und die Familie schaute ihm nach. Aber das hätte er gar nicht überlegen müssen. Als das Frühstück dann das letzte Frühstück gewesen war, stand der Graf Sternberg als Erster auf und sagte ganz und gar sachlich: Ich warte unten. Zur Familie hin: Wir sehen uns noch. Adieu.
Jetzt die Schlussumarmungen. Da blieb nur die Komödie. Der Onkel als Neffe. Richtig laut durfte es da zugehen. Die unglaublichsten Phrasen durften aufgesagt werden. Die beiden jüngeren Schwestern machten mit, ohne wahrscheinlich die Zweideutigkeit dieses Komödientextes zu spüren. Frau von Levetzow war der lustige Tumult willkommen. Erst ganz zum Schluss, als Goethe sich nach dem Handkuss aufrichtete und ihr in die Augen sah, wurde sie ernst. Sie imitierte zwar die Kürzelsprache der Töchter,sagte: K V d O o M , aber das klang eher beschwörend als spielerisch. Goethe wiederholte nicht weniger ernst: K V d O o M. Die Jüngeren küsste er. Ulrike reichte er die Hand und sagte: Also. Sie sagte auch: Also, aber ihr Also war kein Echo auf sein Also. Dann dreht man sich um und wundert sich, dass das gelingt. Von der Tür noch einmal ein boulevardhaftes Winken.
Drunten wartete der Graf, der nimmt Goethe, man kann es nicht anders sagen, unter seine Fittiche. Der Graf ist mindestens so groß wie der Vornamenlose. Das konnte Goethe jetzt als ihn heimsuchende Vorstellung nicht abweisen. Beide haben ein Oberlippenbärtchen. Aber was der Graf hat, ist kein höhnischer Zierstrich, sondern ein gut diszipliniertes zärtliches Gebüsch. Schon bei den Promenade-Gängen drüben in Marienbad hatte Goethe immer empfunden, er sei beim Grafen in einer Art Achselhöhlenobhut. Jetzt in Karlsbad, am sonnigen Morgen des 5. September 1823, hätte er den Weg vom Goldenen Strauß vor zum Goldenen Löwen ohne den Grafen nicht gehen können. Er klammerte sich nicht jämmerlich an den großen, schönen Mann, aber er lieh ihm den linken Arm, dass der sich bei ihm einhänge; sie gingen im Gleichgewicht. Das spürte er. Und sie mussten nicht plaudern, um sich vor Passanten zu schützen. Goethe spürte es und wusste, dass der Graf es auch spürte: Sie konnten nicht gestört werden. Goethe spürte sogar, dass die vom Fenster aus nachschauende Familie diesem Abgang kommentarlos zuschauen musste. Bevor er dann in sein elegantes Gefährt stieg, sagte er zum Grafen: Sie sind mir immer willkommen. Und fügte noch hinzu: Bis zuletzt. Ein Kopfnicken beiderseits. Keine winkende Hand.
Das Wetter konnte besser nicht sein, Stadelmann nahm der Straße ab, was sie hergab, vielleicht sogar noch ein bisschen mehr. Und weil es seit Tagen so trocken war, wirbelte der in der Sonne rotbraune Staub hoch und sank hinter ihnen wieder zusammen.
Was sollte er jetzt zulassen in seinen Gedanken, was abhalten? Als könnte man das entscheiden. Aber man muss so tun, als könnte man, sonst ist man ein Gespann, bei dem die Pferde dahinrasen und auf kein Kommando mehr hören. Wie das endet, weiß man.
Sobald sie die Stadt ganz hinter sich hatten, kehrte er zurück zur letzten Szene. Er ließ die Szene mehr als einmal ablaufen, jedes Mal nur, um zu Ulrikes Also zu kommen. Ulrikes Also war heller gewesen als sein Also. Mutiger. Zukunftssicherer. Auffordernder. Hinreißender. Er schämte sich für sein flügellahmes Also. Wie viel Zukunft klang in Ulrikes Also! So oft er zu diesem Also kam, hörte er, dass es ein Also war, das ihn aufforderte, Zukunft zu schaffen. Das hieß Schreiben. Und fing zu schreiben an – in der Kutsche, in seinem fabelhaft federnden und schwingenden Wagen schrieb er mit Bleistift in seinen Reisekalender, dem die kalendarischen Daten immer nur die Hälfte jeder Seite füllten. Dass es eine Elegie sein würde, war schon entschieden, als er die erste Zeile schrieb.
Elegie von Marienbad. So sollte sie heißen.
Als er in Eger vor Grüners Haus
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