Ein liebender Mann
ausstieg, standen in seinem Kalender die ersten sechs Zeilen. Die sechs Zeilen zeigte er seinem Freund Grüner nicht. Aus diesen sechs Zeilen entstand von Station zu Station die Marienbader Elegie. Von Eger über Gefell, Schleiz, Kahla und Pößnecknach Jena. Die Elegie, das war keine Eilpost der Seele, das war sein Vergegenwärtigungs-Unternehmen, damit Ulrike, solange er schrieb, weniger oder gar nicht abwesend sei.
Beim Abschied am nächsten Morgen rief Grüner, als Goethe schon im Wagen saß, zu ihm hinauf: Ich wage, aufs nächste Jahr zu hoffen, die Exkursion zu den Menilithen steht uns noch bevor. Hier durfte gewinkt werden. Von beiden. Aber Goethe konnte sich, wenn er winkte, nie des Gefühls erwehren, Winken minimalisiere den Abschied. Aber vielleicht ist das der Sinn des Winkens.
Eine Zeit lang war Grüner noch in seinen Gedanken. Goethe warf es sich vor, dass er am Vortag einmal ungeduldig geworden war, als er in der Mineraliensammlung stehen bleiben sollte vor gerade eingetroffenen Versteinerungen von Abdrücken aus Steinkohlen Englands. Das wird den Grafen Sternberg interessieren, hatte er ein bisschen nervös gesagt. Noch schlimmer. Als Grüner bemerkt hatte, dass sein Freund heute für Mineralien nicht zu haben war, hatte er angefangen, die entsetzliche Hungersnot im Erzgebirge zu schildern. Goethe hatte sich ein teilnahmsvolles Gesicht abverlangt. Was denn, wie denn, die Welt ein Grauen, bitte, ja, aber was nützt es, teilzunehmen.
Und jetzt in Zwotau die Nachricht: Hof brennt, Hof, eine einzige Brandkatastrophe. Er sofort zu Stadelmann: Um Hof herum. Den größtmöglichen Umweg um Hof herum. Schlimm genug, dass die vorausgeschickte Lastfuhre mit fünf Kisten Mineralien und sechs Kisten Kreuzbrunnen gerade in Hof sein musste, vielleicht in Brandpanik gekippt, Mineralien-Kisten und Kreuzbrunnen-Flaschen verloren. Er zog die Vorhänge vor. Er wollte zur Elegie.
Da sie dann in Gefell übernachteten, wo sie noch nie übernachtet hatten, prüfte Stadelmann im Gasthof zuerst die Schlafzimmertüren, ob die Angeln geölt seien. Wenn nicht, hatte er immer das Öl dabei und rief seinen Herrn erst, wenn die Türen lautlos glitten. Am nächsten Tag bis Schleiz. Da kannte man diesen Besucher, samt seinem Kutscher. Goethe erwachte allerdings gegen fünf Uhr morgens an Taubengurren und musste dann zuhören, weil er Tauben noch nie so nah und ausführlich hatte gurren hören. Er zeichnete sich Notenlinien auf und trug ein, was er hörte.
Das war der Mann.
Das war die Frau.
Der Mann war ziemlich dicht in einem der Bäume vor dem Fenster, die Frau in der Ferne. Das ging eine Stunde so weiter. Dann kam die Frau näher. Der Mann kam ihr entgegen.Ein heftiges Flügelschlagen aus wahrscheinlich vier Flügeln. Dann Ruhe. Aber höchstens eine Viertelstunde. Dann begann das Gurren wieder. Er in der Nähe, sie weiter weg. Goethe schloss das Fenster. Das Gurren war jetzt gedämpft, aber es blieb unüberhörbar ein Gurren. Wenn er jetzt Ulrike einen Brief schreiben, ihr erzählen könnte, was hier vor seinem Fenster in den Baumkronen stattfand, dann wäre doch alles gut! Aber so! Zur Elegie.
Durch Pößneck nach Kahla. Schon drohte Jena. Er musste sich der Elegie versichern, als wäre sie eine Bastion, die ihn und Ulrike schützen könnte vor Jena und vor dem, was nach Jena kommen musste. Jena, das war die Gewöhnlichkeit der Geschäfte, die jetzt formiert war gegen ihn, gegen Ulrike und ihn. An diesem letzten Tag vor Jena hatte er, als er in der wie immer schwingenden Kutsche schrieb, das Gefühl, er schreibe kniend. Und sobald er das Schreiben auch nur einen Augenblick aufhörte, hörte er sich wieder die kurzen kleinen Schreie ausstoßen. Sie waren in der Tonlage viel zu hoch. Es waren lächerliche kleine Schreie. Aber er brauchte sie.
Stadelmann rief, sie seien in Kahla. Er zog den Vorhang zurück, stieg aus, ließ sich in sein Zimmer führen, setzte sich an den Tisch und überarbeitete die heutige Strophe. Stadelmann konnte noch melden, die Lastfuhre sei heil durch Hof gekommen, sei schon gestern hier gewesen und heute früh weitergefahren nach Weimar.
Am nächsten Tag war Jena erreicht. Am Botanischen Garten, den er hatte anlegen lassen, im Inspektor-Haus, wo er sich für seine Jena-Aufenthalte hatte eine Wohnung einrichten lassen, erwartete ihn Sohn August. Goethe erschrak.So dick hatte er den Sohn nicht in Erinnerung. Am liebsten hätte er die Unterhaltung mit dem Hinweis auf die Hahnemann’sche Diät, die er
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