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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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denn niemand nimmt Antheil an ihr. Eine Närrin, die sich abgibt, gelehrt zu sein, sich in die Untersuchung des Canons melirt, gar viel an der neumodischen moralischkritischen Reformation des Christenthumes arbeitet und über Lavaters Schwärmereien die Achseln zuckt, eine ganz zerrüttete Gesundheit hat und deswegen auf Gottes Erdboden keine Freude. So einer Creatur war es auch allein möglich, meine Nußbäume abzuhauen. Siehst du, ich komme nicht zu mir! Stelle dir vor, die abfallenden Blätter machen ihr den Hof unrein und dumpfig, dieBäume nehmen ihr das Tageslicht, und wenn die Nüsse reif sind, so werfen die Knaben mit Steinen darnach, und das fällt ihr auf die Nerven, das stört sie in ihren tiefen Überlegungen, wenn sie Kennikot, Semler und Michaelis gegen einander abwiegt. Da ich die Leute im Dorfe, besonders die alten, so unzufrieden sah, sagte ich: Warum habt ihr es gelitten? – Wenn der Schulze will, hier zu Lande, sagten sie, was kann man machen? Aber eins ist recht geschehen. Der Schulze und der Pfarrer, der doch auch von seiner Frauen Grillen, die ihm ohnedieß die Suppen nicht fett machen, was haben wollte, dachten es mit einander zu theilen; da erfuhr es die Kammer und sagte: hier herein! denn sie hatte noch alte Prätensionen an den Theil des Pfarrhofes, wo die Bäume standen, und verkaufte sie an den Meistbietenden. Sie liegen! O wenn ich Fürst wäre! ich wollte die Pfarrerin, den Schulzen und die Kammer   – Fürst! – Ja, wenn ich Fürst wäre, was kümmerten mich die Bäume in meinem Lande?
    Als sie aufhörte und damit den Werther-Vortrag für beendet erklärte, blieb sie keinesfalls stehen, etwa um zu erfahren, was der Werther-Autor zu dieser Partie oder gar, was er zu ihrem Vortrag sage. Da hatte man, sobald man sich kennengelernt hatte, einander vorgelesen und von ihm kluge Hilfe zur Verbesserung der Vorlesekunst erbeten und erhalten, und jetzt trug sie Werther auf eine Art vor, die in den abendelangen Gesprächen über das Vorlesen nie erörtert werden konnte, weil so nie vorgelesen worden war, weder von ihm noch von einer der Vorleserinnen aus der Familie. Noch in Marienbad im Juli hatte die forscheBertha genussvoll wiederholt, dass er vor zwei Jahren von allen Ulrike am meisten kritisiert hatte. Mehr Energie- und Darstellungslebhaftigkeit, habe er gesagt, müsse sie entwickeln. Und Ulrike darauf in eiferloser Sachlichkeit, sie wolle ja auch kein Tieck werden.
    Jetzt begriff er, warum Ulrike als Vorleserin von Scott-Romanen weder Energie noch Darstellungslebhaftigkeit entwickelt hatte. Ihre Natur weigerte sich, etwas zu produzieren, was nicht aus ihr selber kam. Sie war gegen alles Künstliche. Und sei es Kunst. Sie war die Sachlichkeit selbst. Die Unverbiegbarkeit. Sie hatte die Sätze anspruchslos entstehen lassen. Wie von selbst waren die Sätze gekommen. Kein Ausdruckswillen ihrerseits. Aber auch kein Verbergen ihres Interesses für diese Sätze. Er hatte durchaus eine Begeisterung gespürt. Aber es war nicht ihre Begeisterung, es war die Begeisterung dieser Sätze. Eine nach innen drängende, nicht nach außen unterstützt sein wollende Begeisterung.
    Ohne dass noch gesprochen wurde, kamen sie durch den hohen Wald hinauf zur Hütte. Da erst konnte er sagen: Ulrike, zum Glück hast du uns für diesen Nachmittag zum Du verholfen, sonst könnte ich dir wahrscheinlich nicht sagen, dass diese Passage noch nie so gelesen worden sein kann. Und dass du diese Passage gewählt hast   …
    Auswendig gelernt hast, sagte sie, musst du sagen.
    … auswendig gelernt hast, macht mich glücklich, ohne dass ich wüsste, warum.
    Und sie ganz nachlässig: Wenn man weiß, warum man glücklich ist, ist man doch nicht mehr glücklich.
    Dann bin ich jetzt, sagte er, sehr glücklich.
    Exzellenz, ich habe dich angesteckt, sagte sie.
    Ich dich, sagte er.
    Wir uns, sagte sie.
    Er flüsterte: Dass du immer das letzte Wort haben musst, macht mich am glücklichsten.
    Aber, sagte sie, auch geflüstert, du hast, weil du nichts unkommentiert lassen kannst, das letzte Wort gehabt.
    Er deutete pantomimisch an, dass jetzt doch sie das letzte Wort gehabt habe.
    Auf dem Rückweg sagte Ulrike, bevor sie zurück seien im Terrain des Sie-Sagens, müsse sie doch noch melden, warum sie die Partie mit den Nussbäumen habe auswendig lernen müssen. In diesen Sätzen sei ihr Goethe deutlicher geworden als in allem, was sie sonst von ihm gelesen habe. Er selber habe einmal angedeutet, er sei Lotte genau so, wie er Werther

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