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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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spazierte er mit Ulrike durch die Gassen, die Goethe so gut kannte. Warum sollte Ulrike nicht einen Ausflug nach Sesenheim vorgeschlagen haben? Goethe hatte mit ihr einmal über das Küssen gesprochen, nur um ihr mit einem Schnell-Überblick über seine wichtigsten Küsse wirklich zu beweisen, dass sie die größte Küsserin aller Küsserinnen sei. Das war kein bisschen übertrieben. Er hatte nicht doziert, weniger doziert als je, er hatte sie mitgenommen in einen Gedankengang, den nur sie in ihm geweckt hatte, dass nämlich, wie das Küssen geschieht, am wenigsten von den Mündern abhängt, sondern ganz und gar von den Personen, die da küssen. Ulrike hatte nicht nur zugestimmt, sie hatte ihn lebhaft überboten: Wenn die Seelen einander nicht küssen, sind die Münder tot. Ach, Ulrike, hatte er gerufen oder geseufzt, auf jeden Fall hatte er wieder einmal den Grad ihrer Übereinstimmung gefeiert. Das war bei so vielen Gesprächen und Situationen immer sein Part: die Übereinstimmung zu feiern, die sie gerade wieder erlebt hatten. Als er das zum ersten Mal getan hatte, hatte Ulrike gesagt: Und das ist mehr als Harmonie. Und er hatte gerufen: Harmonie ist furchtbar, das ist der Friedhof des Gefühls. Während Übereinstimmung, hatte sie gesagt, der Augenblick ist, in dem zwei Menschen, die sich, nur mit dem Instinkt bewaffnet, durch das Labyrinth der Ablenkungen kämpfen, plötzlich erleben, dass sie unablenkbar einander erreicht haben. Ulrike, hatte er gerufen,Ulrike. Und sie: Exzellenz, ich finde es lieb, dass Sie nicht merken, wie ich Sie imitiere. Aber ich gebe zu, es macht mir Spaß.
    Und jetzt in Sesenheim, mit Herrn de Ror. Und plötzlich wusste er den Vornamen dieses Herrn. Juan   – Juan de Ror. Klar. Don Juan de Ror. Und in der nächsten Mitternacht wird er den Juan opfern und Ulrike seinen endgültigen Vornamen offenbaren. Adam de Ror. Als solcher wird er um ihre Hand anhalten lassen, und zwar durch seinen Protektor, den Hofrat und Finanzminister Österreichs Franz Graf von Klebelsberg-Thumburg, der ohnehin in Kürze Ulrikes Stiefvater sein wird. Klar. Amalie von Levetzow hätte doch längst ja gesagt, wenn sie nicht die drei Töchter vorher versorgt wissen wollte. Ulrike de Ror, das war eine glänzende Versorgung. Dann noch Amalie und Bertha, das heißt, in zwei, drei Jahren kann die erlösende Hochzeit sein, dass Amalie von Levetzow endlich eine Heirat erlebt, die keine preußische Standesplackerei mehr ist, sondern eine österreichisch-ungarische Lebensfarbigkeit und -fülle . Vielleicht ist die tolle Ulrike, das neunzehnjährige Ding, auch eine hochqualifizierte Kalkulationsmaschine für etwas, was man Zukunft nennt. Sie muss, will sie nicht als Internatsjungfer verkümmern, hinaus ins sogenannte Leben. Da kommt nun der orientalische Nichtorientale Señor Velozifer persönlich aus Paris-Wien, Herr des härtesten Glanzes der Welt. Dir hat man dichterische Raserei vorgeworfen, bei Herrn de Ror muss es Liebe sein. Das ist die absolute Fügung: Die Ohrläppchenauffälligkeit wird mit zwei Granatfeuerwerken bedient, nach denen sich alle Ohrläppchen der Welt sehnen. Nehmen Sie sie, Señor deRor, nehmen Sie, was Ihnen gehört hat, bevor es zur Welt gekommen ist. Es gibt im Kosmos für alles eine Bestimmung. Die ist an den Ohrläppchen sinnfällig geworden, so über alles Subjektive hinaus, dass wir uns keinem Gram und schon gar keinem persönlichen hingeben müssen. Sie hat Vergangenheit gegen Zukunft getauscht. Das darf verstanden werden. Das alles wird heute gesät und gleich darauf geerntet. Er, der keinerlei Zukunft mehr liefern kann, der nur noch Witwenversorgung anbieten kann, er muss Ulrike doch beglückwünschen. Madame de Ror, je vous félicite cordialement.
    Wenn er nur nicht so gesund gewesen wäre! Warum war er jetzt so gesund! Warum wälzte er sich nicht auf dem Boden und schrie vor Gallen- und Nierensteinschmerz. Die Herzogin, seit ihrem Sturz kein Schritt mehr ohne stechenden Schmerz. Einen messerscharfen Schmerz, bitte, wo auch immer, nur dass er sich schreiend wälzen könnte, dass sie in der Nachbarschaft Fenster und Türen schließen und sein Schreien mit Teppichen dämpfen müssten, dass Nachbarn ausziehen müssten, weil sie sein Schreien nicht mehr ertrügen. Dass er dann schreiend allein wäre in der Welt. Nur noch er und sein Schreien. Dieses Schreien, das er jetzt spürt und nicht hinauslassen darf, weil sein Schmerz nicht von Gallen- und Nierensteinen kommt, sondern aus der Seele.

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