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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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vielleicht vergessen, der ist sicher immer so stürmisch, kann er ja, falls sie mit denen hingeht, um neun muss sie zurück sein im Internat, die Mutter will eine Sondererlaubnis, will sie nicht, warum auch, obwohl, wenn sie mitginge, interessant wäre, ob er, wenn man ein zweites Mal mit ihm die Mitternachtsgrenze passierte, wieder den selben Vornamen preisgäbe. Wenn sie Goethe den Vornamen sagen dürfte, würde er sofort verstehen, was sie meint. In der einen Mitternacht so, in der nächsten anders. Das würde ihr überhaupt die Vornamenlosigkeit erklären. Und wenn er dann einmal eine heiratet, bleibt der Vorname, den er sich in der ersten Mitternacht mit ihr gegeben hat. Alles Spielerei. Ein Schmuckhändler eben, bei dem alles zum Geschenk werdensoll. Auch der Vorname. Ein Übersetzer von tausend Gedichten, von denen kein einziges auch nur verglichen werden darf mit der Marienbader Elegie. Die Elegie, Exzellenz, hält uns, schützt uns, eint uns. Sie lebt. Und wir mit ihr. Ihre Ulrike.
    Also hingehen, bis nach Mitternacht bleiben, den neuen Vornamen studieren, ob es vielleicht der endgültige sei, den sie durch Europa tragen will wie ein Diadem. Er saß und saß. Das Herz klopfte den Hals herauf. Er sollte offenbar nicht mehr atmen. Die Aufgeregtheit seines Herzens ließ es nicht zu, dass er noch an etwas anderes dachte als an die Aufgeregtheit dieses Herzens. Atmen. Mehr war nicht verlangt. Aber das war schwer genug. Die Ermöglichung des Atmens. Hin und her gehen war jetzt unvorstellbar. Das Fenster unerreichbar. Er war ein geschlagenes Stück Fleisch. Der Atem das Unsicherste. Und doch dieses Interesse, den nächsten Atemzug zu ermöglichen. Das Zittern in den Händen zerrinnen lassen. Es rinnt durch alle Adern hindurch. Wird eine Müdigkeit, die wehtut. Diese Müdigkeit verhindert jede Bewegung. Du musst jetzt für immer sitzen, diese wehtuende Müdigkeit durch deine Adern rinnen lassen. So schwer waren deine Arme noch nie, dein Kopf noch nie, du noch nie.
    Als es dunkel geworden war, rief er Stadelmann und sagte mit einer ganz ruhigen Stimme, Stadelmann möge, bitte, für Bier sorgen. Köstritzer. Das hellere oder das dunklere, fragte Stadelmann. Beide. Und viel. Und Semmeln. Die großen. Alles da auf den Tisch. Und keine Störung. Stadelmann nickte.
    Er hätte lieber sehr viel gesagt statt viel, aber damit hätteer Emotion verraten, und Stadelmann würde das, vielleicht erst, wenn sie ihn danach fragten, weitermelden, und Ottilie und Sohn August würden sich gestatten, Schlüsse zu ziehen.
    Man darf dieses Gedicht nicht lesen. Man muss es begehen. Wie man ein Fest begeht. Aber der aphrodisische Hals! Die schwellenden Ohren! Die Schönheit namens Ulrike.
     
    31.   Oktober 1823, Freitag
    So ist der Hinrichtungstag angesagt, auch den Sterbetag kann ein hohe Ansprüche stellender Arzt so im Voraus bekanntgeben. Goethe hatte eine Woche Zeit, sich vorzubereiten. Er konnte sitzen und warten. Mit eingefallenen Ohren. Warten, das tat er, seit er zurück war. Dass nichts kommen konnte, von ihr, das wusste er so genau, wie er nichts sonst wusste. Dass Wissen nichts nützt, wusste er längst. Wenn man zum Glauben verurteilt ist. Man könnte sagen: verdammt ist. Glauben, das ist die reine Unruhe. Das andauernde Fürmöglichhalten. Also das andauernde Enttäuschtwerden, Vernichtetwerden. Dasselbe Spiel mit Hoffnung. Er hat seit Wochen gehofft, sie komme. Nach Karlsbad war die Familie in Dresden. K V d O o M . Dann nach Straßburg. Musste sie da etwa nicht durch Weimar kommen? Keine Mitteilung. Also kam sie nicht durch Weimar. Aber dass sie, wenn sie zurück ins Internat musste, durch Weimar käme, hat er hoffen müssen, bis aus Straßburg das Billet kam, das die Ankunft dort meldete. Alsonicht durch Weimar gekommen. Er hatte aber jeden Tag gehofft, sie werde die fünf Schritte von der Poststation zu ihm natürlich nicht scheuen, sie werde unten durch die offene Tür hereinkommen, werde rufen, ihn rufen, er werde sie hören   … Die spinnige Amsel Bettina von Arnim ist mehr als einmal unangemeldet hereingeplatzt und war lästig. Das ist das Gesetz über allen Gesetzen: Die Lästigen kommen unangemeldet. Denn sie sind ein Übel. Die aber ersehnt sind, kommen nicht.
    Er hatte sich geübt, ihre Abwesenheit als ihre Form der Anwesenheit zu denken, zu erleben. Er hatte diese Denkweise von allem, was daran als paradox empfunden werden konnte, befreit. Sie war in jeder Sekunde als Abwesende anwesend. Das hatte zur Folge,

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