Ein liebender Mann
Die Seele ist doch auch ein Organ. Sie tut weh. Nichts als weh. Er stand mitten im Zimmer. Plötzlich spürte er, dass der Boden heiß war und immer heißer wurde. Er hob einen Fuß, musste dann gleich den anderen heben und wieder den einen. Der Boden war eine glühende Platte. Immer weniger lang war die Glut an denSohlen zu ertragen, immer rascher musste er von einem Fuß auf den anderen hüpfen. Wo er auch hinsprang, der Boden glühte im ganzen Zimmer, an jeder Stelle gleich. Er war von dem Hüpfen längst außer Atem. Er war vielleicht in der Panik des ersten Augenblicks zu schnell von einem Fuß auf den anderen gehüpft. Er musste das Tempo mäßigen. Vielleicht hatten sich auch die Füße ein wenig an die Bodenglut gewöhnt. Aber aufhören konnte er keinesfalls. Es war ein Tanz, das fiel ihm doch noch ein. Ein Tanz auf einem glühenden Boden. Entweder der Boden hörte auf zu glühen, oder er würde bald genug hinstürzen und dann auf der Glut verbrennen. Da rannte er einfach hinaus, hinüber, hinunter in die Schlafkammer. Die rettete ihn. Wieder einmal. Er weinte. Das half. Er würde liegen bleiben.
Dass er sich ein Programm gegeben hatte für diesen Tag, fand er, als er es dann absolvieren musste, richtig.
Wenn ihn nichts mehr interessierte, hörte er doch zu, als interessiere ihn, was man ihm erzählte. Der schottische Kapitän übertraf ihn. Er sei nicht wegen Goethe nach Weimar gekommen, sondern wegen Madame Szymanowska. Er komme aus Petersburg, habe gedacht, die Szymanowska trete dort auf, dann hieß es, die ist zur Zeit in Weimar, also ab nach Weimar, aber in Weimar gewesen zu sein, ohne den Versuch zu machen, Goethe zu sehen, das müsse Exzellenz doch zugeben, das wäre keine Sünde, das wäre ein Fehler. Und konnte es nicht lassen, den seit wie vielen Jahren in diesen Kreisen kursierenden Satz des napoleonischen Polizeiministers Fouché zu zitieren, der da lautete, dass Napoleon den Herzog von Enghien entführen und erschießen ließ, sei kein Verbrechen gewesen, sondern einFehler. Goethe zeigte, dass er den Satz kannte und ihn für diesen Augenblick auf das angenehmste passend fand. Und gestand, um auch etwas beizutragen, was der Besucher mit nach Hause nehmen konnte, dass es ihn glücklich mache, zweite Wahl zu sein. Man kann das nicht ernsthaft genug üben, sagte er. Das gehöre zu den Übungen, die um so ehrenwerter seien, je erfolgloser sie bleiben müssten. Der Kapitän nahm’s als Altersweisheit mit, bei der Szymanowska werde man sich wiedersehen. Goethe hatte, als er dem schottischen Kapitän nicht zuhörte, sondern an den bei Waterloo getöteten Vater Ulrikes dachte, vermieden, den rechten Daumen um den linken Daumen kreisen zu lassen. In Gedanken an Ulrike hatte er es vermieden. Er hatte, als der Graf Taufkirchen den letzten Abend durch Geschwätz verdarb, offenbar den Daumen kreisen lassen. Ulrike hat es ihm auf dem Weg zur Diana-Hütte gesagt. Ulrike, deren Vater an einem schönen Junitag in der Schlacht bei Waterloo getötet worden war, trug auf dem Weg zur Diana-Hütte Werthers Trauer um die Nussbäume vor. Und das soll nie mehr vorkommen? Nie mehr? Ach ja. Zu Straßburg auf der Schanz, da ging mein Trauern an, das Alphorn hört’ ich drüben wohl anstimmen …
Noch vor der Musik musste Tee mit Ottilie getrunken werden. Sie wollte das zu ihrem Geburtstag: sie und er allein. Sie war aufgedreht, überdreht wie selten. Ihr Geburtstag, ihr Konzert, sie hatte die Gäste eingeladen, August war schon in Berlin. Sich amüsieren. Berlin wurde nie erwähnt ohne den Zusatz, dass man sich dort amüsiere. Aber den Enkel Walther brachte sie mit, Wolfgang war erkältet, und Erkältete konnte Goethe nicht empfangen,auch Enkel nicht. Walther hatte ein Heft mitgebracht, in dem man gezeichnete Bilder anmalen sollte. Die Farbstifte hatte er auch mitgebracht. Goethe liebte seine beiden Enkel, aber es war ihm zuwider, den liebenden Großvater zu spielen. Er hatte das Gefühl, seine Enkel sähen das auch so. Ottilie wollte den großen Friedensschluss. Lange genug sei man jetzt um einander herumgetappt wie fremd oder böse. Goethe nickte. Es interessierte ihn nicht. Er wusste, was er sagen, wie er reden musste. Er ist wieder da. Er gehört hierher! Etwas anderes war nie in seinem Sinn! Für die Gerüchte aller Carolinen ist er nicht verantwortlich! Es tut ihm leid, wenn er die Familie durch diese oder jene Geste beunruhigt haben sollte! Das war nie seine Absicht! Also möge sie ihm, bitte, alles verzeihen,
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