Ein liebender Mann
lesen. Es gab keinen Grund, diesen Brief zu Ende zu lesen. Wenn er ihn wieder in die Hände nähme und die Stelle fände, bis zu der er gelesen hatte, müsste ermehr als einen dieser schlimmen Sätze noch einmal lesen, zumindest Wörtern würde er beim Überfliegen begegnen, den schwellenden Ohrläppchen, dem aphrodisischen Hals, der Schönheit namens Ulrike.
Bevor er den Brief auch nur berühren konnte, musste er verstehen, wie es Ulrike möglich gewesen war, ihm diesen Brief zu schreiben. Der Brief fängt harmlos an. Der Brief fängt sogar lieb an. Hinreißend fängt er an. Sein Herz hatte sofort schneller geschlagen, als er las, wie Ulrike ihr Elegie-Erlebnis darstellte. Das war der Herzschlag der Belebung, der sofort spürbaren Lebenssteigerung. Ihm war es so leicht geworden wie noch nie, als er las, wie sie die Elegie gelesen hatte! Gelesen, wieder gelesen, gelesen, bis sie sie auswendig konnte. Sie hat die Elegie, schreibt sie, nicht nur mit den Augen gelesen, sondern mit ihrem ganzen Körper. Mit Leib und Seele hat sie sie gelesen. Das lesend, hat er sich so glücklich gefühlt wie noch nie in seinem ganzen Leben. Noch nie war er so leicht, so lebendig, so für jede Höhe bestimmt, zu jeder Höhe fähig. Auf und ab sei sie, schreibt sie, die Elegieverse gegangen. Man darf dieses Gedicht nicht lesen, schreibt sie. Man muss es begehen. Wie man ein Fest begeht. Es könne kein Gedicht, nichts Sprachliches geben, das so zu Herzen gehe, so das ganze Schicksal enthalte. So schwer das sei, was in diesem Gedicht, was durch dieses Gedicht geschehe, das Gedicht macht es schön. Durch dieses Gedicht wird jeder Schmerz schön. Und schön zu werden ist offenbar das Höchste, was einem Schmerz geschehen kann. Sie liebe jede Zeile. Die dunklen und die hellen, alle gleichermaßen. Sie gestehe, sie sei stolz, dass sie sich ein bisschen als Adressatindieses Gedichts fühlen könne. Und stolz, weil sie wisse, kein Mensch, in tausend Jahren wird kein Mensch dieses Gedicht so innig verstehen wie sie. Es sei ihr Gedicht. Ihr Leben. Ihr Schicksal. Ihr Gedicht.
Ja, wie hätte da sein Herz nicht schneller schlagen sollen! Wie hätten ihn diese Ulrike-Sätze nicht in jede Höhe fliegen lassen müssen! Dann die Wende. Der Sturz. Die Mutter ist schon in Straßburg. Am nächsten Tag soll der Graf kommen. Am 31. Oktober Herr de Ror. Und das wegen der Edelsteine aus Brasilien …
Wenn er die ersten Seiten des Briefes ohne die folgenden lesen könnte. Stadelmann bitten. Geht nicht. Alles, was du jetzt tust, kann falsch sein. Muss falsch sein. Nur hin und her rennen, so schnell, dass du kaum noch kannst, das geht. Oder hinausrennen, anspannen lassen, Stadelmann soll losfahren, so schnell wie noch nie, weg aus diesem Haus, in dem dieser Brief liegt, aus diesem Haus, in dem offenbar erwartet wird, dass er alles hinnehme, was ihm in diesem Haus passieren kann. Rannte zum Tisch, hob das Buch weg, nahm den Brief, rannte in die Schlafkammer, spürte sofort, dass das die richtige Entscheidung war, rief nach Stadelmann, keine Störung! Dann ließ er sich in den von der Gräfin Egloffstein geschenkten Ohrensessel fallen und spürte nicht einmal mehr den kleinen Protest gegen die Bezeichnung Großpapa-Stuhl, den er fast immer, wenn er in diesem Sessel Zuflucht suchte, zuerst noch wegwischen musste. Weil sie den Stuhl zur Geburt des Enkels Walther geschenkt hatte, war die Bezeichnung, die er nicht mochte, geblieben. Wahrscheinlich hatte Ottilie dafür gesorgt, dass sie blieb. Ach ja, und der 31. Oktober, der Tag des Herrnde Ror, ist Ottilies Geburtstag. Achtundzwanzig. Das ist Dramaturgie! Das wird ein Tag, der, solang er unvorstellbar ist, interessant aussieht.
Er nahm den Brief, überflog die schönen und die schrecklichen Seiten. Er fand die Stelle: also am Freitag, dem 31. Oktober. Dann las er den Brief zu Ende, dann legte er den Brief aufs Bett. Das Herz hatte wieder angefangen zu hämmern. Die Seele ist ein Organ. Das wusste er jetzt. Du kannst an der Seele sterben. In seinem Kopf wirbelte Ulrikes Botschaft. Der stürmische Schmuckmann will verkaufen, die Mutter ist schon ganz wild auf die Steine aus Übersee, Ulrike wird ihn diesmal fragen, ob sie ihrem Freund Goethe den Vornamen sagen dürfe, sie kommt doch gar nicht mit in sein Hotelzimmer, Steine interessieren sie einfach nicht, gut, beleidigen will sie den Stürmischen auch nicht, aber eine Kundin wird sie nie, dafür hat die Mutter gesorgt, de Ror hat die Nacht im Sommer
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