Ein liebender Mann
dass jede Gegenwartssekunde geschwächt war. Alles, was er in den Wochen seit seiner Rückkehr getan oder mitgemacht hatte, hatte er sozusagen zum Schein getan und mitgemacht. Er hatte es immer getan und mitgemacht in dem Bewusstsein, dass Ulrike nicht da sei, dass sie eigentlich da sein müsste, dass erst wenn sie da wäre, das, was er tat und mitmachte, das wäre, was es so nur zu sein schien. Alles war Ersatz, der nur auf das aufmerksam machte, was er ersetzen sollte: Ulrike. Negative Anwesenheit, genau gesagt.
Am 31. Oktober, einem Freitag, erwachte er an den kurzen kleinen Schreien, die er offenbar im Schlaf ausgestoßen hatte. Er lag. Die Augen hatte er, nachdem er aufgewacht war, sofort wieder geschlossen. In Marienbad war er jeden Morgen aufgesprungen, hatte seine Übungen gemacht, sogar gesungen hatte er. Er gestand sich, dass er Marienbad verkläre. Was sollte er sonst tun? Wer keine Gegenwarthat, muss die Vergangenheit verklären. Wie wär’s mit verdammen? Noch nicht. Es tat auf jeden Fall gut, die Augen nicht öffnen zu müssen. Als er die Augen für einen Augenblick geöffnet gehabt hatte, hatte er gespürt, dass es wehtat, etwas sehen zu müssen. Augen zu, und sofort das Wohlgefühl, nichts mehr sehen zu müssen. Sogar seine urvertraute Schlafkammer gehörte nicht zu ihm, sondern zur Welt der Sichtbarkeit. Am schlimmsten: die Vorstellung, Menschen sehen zu müssen. Dass er diese Verführung zum Liegenbleiben zu bekämpfen hatte, wusste er. Er erlebte das nicht zum ersten Mal. Es war so einfach: Wenn er wüsste, wann er Ulrike das nächste Mal sehen würde, gäbe es kein Liegenbleibenmüssen und nicht die Welt als Sichtbarkeitsschmerz. Und stand doch auf. Ohne Aussicht auf Ulrike. Im Gegenteil. Der 31. Oktober. Der wird in seine Geschichte eingehen. Wie, weiß er noch nicht.
Er rief Stadelmann, dass der ihm in den Tag helfe. Wie hatte der im kostbaren Formulieren des Gewöhnlichen unübertreffliche Schiller gesagt? Aus Gemeinem ist der Mensch gemacht, und die Gewohnheit nennt er seine Amme.
Er hatte absichtlich versäumt, diesen Tag von Besuch und Betrieb freizuhalten. Zum Tee war angemeldet Sir Wylmsen, Kapitän des Schottischen Dragoner-Regiments, das bei Waterloo ruhmreich gekämpft hatte; Kanzler von Müller hatte ihn angekündigt als Alcides plus Antinous in einer Person. Dass Ulrikes Vater, Friedrich Wilhelm von Levetzow, in dieser Schlacht getötet worden war, wusste der Kanzler natürlich nicht. An einem schönen Junitag, hatte Frau von Levetzow mit einer umflorten Stimme gesagt.Und das ist gerade mal acht Jährchen her. Das Abendprogramm: ein Quartett des Prinzen Louis Ferdinand. Dabei sein wird Mr. Sterling, schon im Mai zu Besuch, mit Grüßen von seinem Freund Lord Byron. Und Ottilie war hin. Wurde schon im Mai sofort die Geliebte des Achtzehnjährigen, sagte es andauernd jedem. Ihr zuliebe, sozusagen um sie zu entschuldigen, nannte Goethe Mr. Sterling im Mai den dämonischen Jüngling. Dass die Achtundzwanzigjährige dem Achtzehnjährigen nachrennt, könnte sie doch über Altersunterschiede milder denken lassen. Keine Spur. Jeder versteht immer nur sich.
Als er tagesfertig ins Arbeitszimmer kam, wo John schon wartete, merkte er, dass heute kein Brief beantwortet, keine Silbe diktiert werden konnte. Im Augenblick war es nicht vorstellbar, dass er je wieder in seiner eingeübten Haltung auf und ab gehen und denken und diktieren würde. So unauffällig wie möglich sagte er dem Schreiber, dass heute nichts stattfinde. Das war tatsächlich der Wortlaut. Damit hatte der unauffällig sein wollende Ton seinen Zweck eher verfehlt. John bemühte sich auch gar nicht, sein Überraschtsein zu verbergen. Anstatt sich höflich zu verneigen und seinem Herrn einen angenehmen Tag zu wünschen, blieb er starrsinnig stehen und drückte so, wenn auch nur ganz kurz, seine Meinung über diesen Verlauf aus, und die war kritisch. Goethe spürte die ganze Geschichte, die er mit John hatte. Zuerst Goethes Sekretär, schon sein Vater Goethes Sekretär, aber seit Kräuter da war, wurde John immer mehr zum Schreiber. Das ließ er seinen Herrn spüren, wenn er dafür eine Gelegenheit sah. Die hatte er jetzt gesehen. Goethe winkte ihm, als John sich an der Tür nocheinmal zur letzten Verbeugung umdrehte, so freundlich zu wie schon lange nicht mehr. Es war aber allerhöchste Zeit, dass er allein war. Inzwischen war Herr de Ror sicher eingetroffen in Straßburg. Sicher schon am Vorabend. Wahrscheinlich
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