Ein Lied für meine Tochter
geblieben, und du hast ihn mitten in den See geschleudert.«
Daran habe ich schon seit Jahren nicht mehr gedacht. »Vielleicht machst du es ja besser, wenn du es deinem Sohn beibringst.«
»Oder meiner Tochter«, sagt Reid. »Schließlich gibt es keinen Grund, warum ein Mädchen nicht auch angeln sollte.« Allein bei der Vorstellung geht ihm schon das Herz auf. Ich kann ihm seine Zukunft am Gesicht ablesen: die erste Ballettaufführung, das Abschlussballfoto, der Vater-Tochter-Tanz auf der Hochzeit. Ich habe Reid immer unterschätzt. Früher dachte ich, er könne nur für seine Arbeit Leidenschaft entwickeln, doch jetzt glaube ich, er hat sich nur so sehr in die Arbeit gestürzt, weil er die Familie nicht hat haben können, die er sich gewünscht hat, und das hat ihn so sehr geschmerzt, dass er jeglichen Gedanken daran hat verdrängen wollen.
»Hey, Max?«, sagt Reid, und ich drehe mich zu ihm um. »Glaubst du, mein Kind … Glaubst du, er oder sie wird mich mögen?«
Ich habe Reid noch nie so unsicher gesehen. »Was meinst du damit?«, frage ich. »Natürlich wird das Kind dich mögen.«
Reid reibt sich den Nacken. Seine Verletzlichkeit macht ihn … nun, sie macht ihn irgendwie menschlicher. »Das sagst du«, erwidert er, »aber wir haben unseren alten Herrn auch nicht gerade hoch geschätzt.«
»Das war etwas anderes«, entgegne ich. »Dad war nicht wie du.«
»Wie das?«
Ich denke kurz nach. »Du hast nie aufgehört, dich zu kümmern«, sage ich schließlich. »Er hat nie angefangen.«
Reid lässt meine Worte sacken und schenkt mir ein Lächeln. »Danke«, sagt er. »Es bedeutet mir viel, dass du mir so vertraust.«
Natürlich tue ich das. Auf dem Papier sehen Reid und Liddy wie die besten Eltern aus, die man sich vorstellen kann. Plötzlich sehe ich mich vor meinem geistigen Auge wieder mit dem Taschenrechner im Bett sitzen und ausrechnen, wie tief Zoe und ich in den Schulden stecken werden, wenn nicht nur die Fruchtbarkeitsbehandlungen bezahlt sind, sondern auch die Windeln, das Essen, die Kleidung und die Arztbesuche des Babys. Zoe hat den Zettel mit meinen Berechnungen einfach zerknüllt. Nur weil es auf dem Papier nicht funktioniert , hat sie gesagt, heißt das noch lange nicht, dass man im echten Leben keinen Weg findet.
»Das ist normal, stimmt’s?«, fragt Reid. »Ein wenig durchzudrehen, wenn man Vater wird?«
»Man wird nicht zum Vorbild, weil man auf alle Fragen eine Antwort hat«, antworte ich mit Bedacht. Ich denke an Reid und warum ich immer zu ihm aufgeschaut habe. »Man wird zum Vorbild, weil man klug genug ist, stets die richtigen Fragen zu stellen.«
Reid schaut mich an. »Du hast dich verändert, weißt du das? Wie du redest, die Entscheidungen, die du triffst … Ich meine das ernst, Max. Du bist nicht der, der du mal gewesen bist.«
Mein ganzes Leben lang habe ich mir Reids Anerkennung gewünscht. Warum habe ich jetzt das Gefühl, dass mir gleich schlecht wird?
Als das Telefon klingelt, ist das irgendwie bizarr. Nicht nur, weil wir vor der Küste von Rhode Island schwimmen, sondern weil wir beide wissen, wer es ist. »Erinnere dich daran, was Wade gesagt hat«, ermahnt mich Reid, als ich das klingelnde Handy in der Hand halte.
Zoe beginnt im selben Augenblick zu brüllen, als ich das Handy ans Ohr hebe. »Ich kann nicht mit dir sprechen«, unterbreche ich sie. »Mein Anwalt hat mir gesagt …«
»Warum tust du mir das an?«, schreit Zoe. Sie weint. Das weiß ich, denn dann klingt ihre Stimme wie in Flanell gepackt. Gott weiß, dass ich sie schon oft genug über das Telefon gehört habe, wenn sie mich nach einer weiteren Fehlgeburt angerufen und versucht hat, mich davon zu überzeugen, dass es ihr gut gehe, obwohl das offensichtlich nicht stimmte.
Reid legt mir die Hand auf die Schulter. Aus Solidarität, zur Unterstützung. Ich schließe die Augen. »Ich tue das nicht wegen dir, Zoe. Ich tue das für unsere Kinder.«
Ich spüre, wie Reid nach dem Handy greift und das Gespräch mit einem Tastendruck beendet.
»Du tust das Richtige«, sagt er.
Wenn ich mich wirklich so verändert habe, wieso muss Reid mir das dann sagen?
Neben meinem Fuß steht der Eimer mit den Strandkrabben, die wir als Köder benutzen. Niemand mag Strandkrabben, sie stehen ganz unten in der Nahrungskette. Sie bewegen sich ständig im Kreis und kommen einander in die Quere. Mich überkommt das unbeherrschbare Verlangen, sie einfach über Bord zu werfen und ihnen so eine zweite Chance zu
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