Ein Lied für meine Tochter
Niemand las die Bibel von vorne bis hinten, und niemand brach in Tränen aus, wenn in den Nachrichten Bilder von verhungernden Kindern in Äthiopien gezeigt wurden. Ich nahm an, dass sie etwas zu verbergen hatte. Vielleicht war sie früher ja eine Rockerbraut gewesen, oder vielleicht hatte sie zehn Kinder in Arkansas. Doch Reid hatte mich nur ausgelacht. »Max«, sagte er, »manchmal ist eine Rose einfach nur eine Rose.«
Liddy war als das verwöhnte Einzelkind eines evangelikalen Predigers aufgewachsen, und weil es einen großen Schritt für sie bedeutete, in eine Stadt nördlich der Mason-Dixon-Linie zu ziehen, bestand ihr Vater auf einem Probelauf. Also zogen sie und ihre Cousine Martine nach Providence, in ein winziges Apartment auf dem College Hill, das Reid für sie gefunden hatte. Martine war achtzehn und aufgeregt, endlich von zu Hause fort zu sein. Sie begann, kurze Röcke und Highheels zu tragen, und sie flirtete mit den Studenten auf der Thayer Street. Liddy wiederum arbeitete ehrenamtlich in einer Suppenküche im Amos House. »Ich hab’s dir doch gesagt: Sie ist ein Engel«, betonte Reid immer wieder.
Doch ich erwiderte nie etwas darauf. Und weil Reid wusste, dass ich seine Verlobte nicht mochte – und er keinen Streit in der Familie wollte –, kam er zu dem Schluss, dass es nur eine Lösung für dieses Problem gab: Ich musste mehr Zeit mit ihr verbringen. Immer wieder verdrückte er sich aus fadenscheinigen Gründen oder machte Überstunden. Dann bat er mich, Liddy von Providence nach Newport zu fahren, wo er sie dann zum Abendessen oder ins Kino ausführte.
Immer wenn ich sie mit meinem Pickup abholte, suchte sie sofort einen Radiosender mit klassischer Musik. Liddy war diejenige, die mir erzählt hat, dass die alten Komponisten ihre Stücke immer auf einen Akkord in Dur ausklingen ließen, auch wenn der Rest in Moll geschrieben war. Denn, so erklärte sie mir, ein Moll-Akkord klinge nach dem Teufel. Wie sich herausstellte, war sie Flötistin in einem Amateur-Symphonieorchester gewesen und Solistin am Bibel-College.
Wann immer ich einen anderen Autofahrer beschimpfte, der mir die Vorfahrt genommen hatte, zuckte sie zusammen, als hätte ich sie geschlagen.
Wenn sie mir Fragen stellte, dann versuchte ich, sie zu schockieren. Ich erzählte ihr, dass ich manchmal im Dunkeln surfte, nur um zu sehen, ob ich es bis zum Ufer schaffe, ohne mir den Schädel an einem Riff anzuhauen. Und ich erzählte ihr, meine letzte Freundin sei eine Stripperin gewesen, obwohl das nicht stimmte.
Als wir einmal an einem eisigkalten Tag im Verkehr feststeckten, bat sie mich, die Heizung im Wagen aufzudrehen. Das tat ich auch, und drei Sekunden später beschwerte sie sich, dass ihr zu heiß sei. »Um Gottes willen«, sagte ich, »jetzt entscheide dich doch mal!«
Ich nahm an, dass Liddy mich ermahnen würde, weil ich den Namen des Herrn auf so profane Art missbraucht hatte, doch stattdessen drehte sie sich zu mir um und sagte: »Wie kommt es eigentlich, dass du mich nicht magst?«
»Du heiratest meinen Bruder«, erwiderte ich. »Da ist es doch wohl wichtiger, dass er dich mag.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
Ich rollte mit den Augen. »Wir sind einfach zu unterschiedlich. Das ist alles.«
Sie schürzte die Lippen. »Nun, das denke ich nicht.«
»Ach ja?«, sagte ich. »Warst du je betrunken?«
Liddy schüttelte den Kopf.
»Hast du je eine Zigarette geschnorrt?«
Hatte sie nicht.
»Hast du schon mal ein Päckchen Kaugummi gestohlen?«
Nicht einmal.
»Hast du je einen Typen betrogen?«
Nein.
»Und ich wette, du hast es auch nie bis zur dritten Base geschafft«, murmelte ich, und Liddy lief knallrot an.
»Auf die Ehe zu warten, ist kein Verbrechen«, sagte sie. »Es ist das schönste Geschenk, das man einem geliebten Menschen machen kann. Außerdem bin ich nicht das erste Mädchen, das sich dazu entschlossen hat.«
Aber du könntest das erste sein, dass das auch wirklich durchzieht , dachte ich. »Hast du je gelogen?«
»Nun. Ja. Aber nur einmal, um eine Überraschungsparty zu Daddys Geburtstag geheim zu halten.«
»Hast du überhaupt je etwas getan, was du später bereut hast?«
»Nein«, antwortete sie, genau wie ich es erwartet hatte.
Ich legte die Arme über das Lenkrad und schaute sie an. »Und wolltest du je so etwas tun?«
Wir standen an einer roten Ampel. Liddy sah mich an, und ich schaute sie mir – wohl zum ersten Mal – richtig an. Diese blauen Augen, die ich immer für so
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