Ein Lied für meine Tochter
leer und glasig gehalten hatte wie die einer Spielzeugpuppe, waren voller Hunger. »Natürlich«, flüsterte sie.
Hinter uns hupte ein Fahrer. Die Ampel sprang auf Grün. Ich schaute nach vorne und bemerkte, dass es zu schneien begonnen hatte. Das hieß, dass mein Chauffeurdienst länger dauern würde als geplant. »Immer schön langsam mit den wilden Pferden«, knurrte ich in Richtung des Fahrers hinter mir. Im selben Augenblick fiel auch Liddy auf, dass das Wetter umgeschlagen hatte.
»Du meine Güte!«, rief sie (wer sagt in diesem Jahrhundert noch du meine Güte?), und bevor ich sie davon abhalten konnte, war sie aus dem Truck gesprungen. Sie lief mitten auf die Kreuzung, breitete die Arme aus, schloss die Augen, und die Flocken landeten auf ihrem Gesicht und in ihren Haaren.
Ich hupte, doch sie reagierte nicht. Sie würde einen massiven Stau verursachen. Fluchend stieg ich ebenfalls aus. »Liddy!«, brüllte ich. »Mach, dass du in den verdammten Wagen kommst!«
Sie drehte sich im Kreis. »Ich habe noch nie Schnee gesehen!«, rief sie. »In Mississippi schneit es nie! Das ist ja so hübsch!«
Es war nicht hübsch – jedenfalls nicht auf einer verdreckten Straße in Providence, wo ein Kerl an der Ecke Drogen vertickte. Aber Zyniker gehen immer vom Schlimmsten aus, und ich nehme an, damals war ich der größte Zyniker von allen. Denn in diesem Moment wurde mir klar, warum ich Liddy allein schon aus Prinzip misstraute. Ich hatte Angst, dass jemand wie Liddy in diesem Universum einfach existieren musste … und zwar als Gegengewicht zu jemandem wie mir. Eine Frau, die nichts falsch machen konnte, war der perfekte Ausgleich für einen Typen, der nie etwas richtig machte.
Gemeinsam waren wir zwei Hälften eines großen Ganzen.
Und in diesem Augenblick verstand ich auch, warum Reid sich in sie verliebt hatte. Nicht obwohl sie so behütet aufgewachsen war, sondern genau aus diesem Grund. Er würde bei jedem ersten Mal dabei sein: bei ihrer ersten Kontoeröffnung, ihrem ersten sexuellen Kontakt, ihrem ersten richtigen Job. Ich hingegen war höchstens einmal der erste große Fehler von jemandem gewesen.
Inzwischen hupten weitere Fahrzeuge. Liddy packte meine Hand und wirbelte mich lachend herum.
Schließlich gelang es mir, sie wieder in den Wagen zu bugsieren, doch irgendwie wünschte ich, ich hätte das nicht getan. Ich wünschte, wir hätten einfach weiter mitten auf der Straße getanzt.
Als wir wieder losfuhren, waren Liddys Wangen rot vor Kälte und Anstrengung, und sie atmete schwer.
Reid mochte ja alles andere haben, erinnere ich mich, gedacht zu haben, aber der erste Schnee gehörte mir.
Ein Schluck ist eigentlich gar nichts. Ein Teelöffel voll. Ein Probieren. Jedenfalls hilft er nicht wirklich, den Durst zu stillen, weshalb dieser eine Schluck auch zu einem winzigen zweiten führt, der aber auch nur reicht, meine Lippen feucht zu halten. Und dann denke ich an Zoes Stimme und an Liddys, und sie verschmelzen miteinander, und ich trinke einen weiteren Schluck, weil ich glaube, sie so wieder voneinander trennen zu können.
Ich habe nicht wirklich viel getrunken. Es ist einfach nur so lange her. Der Rausch kommt schnell. Jedes Mal, wenn immer ich auf die Bremse trete, schwappt der Rausch wie eine Flut durch meinen Kopf und spült alles hinweg, woran ich im Augenblick denke.
Und das fühlt sich furchtbar gut an.
Ich greife wieder nach der Flasche, und zu meiner Überraschung ist sie leer.
Ich muss den Inhalt verschüttet haben, denn nie im Leben habe ich so viel getrunken.
Ich meine, das ist doch unmöglich … oder?
Im Rückspiegel sehe ich einen erleuchteten Weihnachtsbaum. Das überrascht mich, und ich kann nicht anders, als ihn weiter anzustarren, obwohl ich eigentlich auf die Straße schauen sollte. Dann stößt der Weihnachtsbaum plötzlich ein lautes Sirenengeheul aus.
Es ist Mai. Da gibt es keine Weihnachtsbäume. Der Cop klopft an mein Fenster.
Ich muss es runterlassen, denn tue ich das nicht, wird er mich verhaften. Ich ermahne mich, mich zusammenzureißen und höflich und charmant zu sein. Ich kann ihn davon überzeugen, dass ich nichts getrunken habe. Schließlich habe ich jahrelang auch den Rest der Welt davon überzeugt.
Ich glaube, den Mann zu erkennen. Ich glaube, er geht sogar in meine Kirche. »Sagen Sie nichts«, beginne ich und grinse ihn verlegen an. »Ich bin vierzig in einer Dreißig-Meilen-Zone gefahren, ja?«
»Tut mir leid, Max, aber ich muss dich bitten
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