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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Fell.
    Lucy schaut weiter von mir weg. Ich beginne einen Beat: Dumm-Dumm-Dumm-DUMM, Dumm-Dumm-Dumm-DUMM  …
    Schließlich höre ich wieder auf. »Wenn du nicht reden willst, dann hören wir uns heute vielleicht nur etwas an.«
    Ich schließe meinen iPod an die Dockingstation an und spiele ein paar Stücke, auf die Lucy auch früher schon reagiert hat, egal ob positiv oder negativ. Im Moment will ich einfach nur eine Reaktion von ihr. Schließlich glaube ich, ihre Mauer durchbrochen zu haben, als sie sich aufsetzt, sich auf ihrem Stuhl umdreht und in ihrem Rucksack kramt. Einen Augenblick später hält sie ein schmutziges, zerknittertes Papiertuch in der Hand.
    Lucy reißt zwei winzige Fetzen ab, knüllt sie zusammen und steckt sie sich in die Ohren.
    Ich schalte die Musik aus.
    Als Lucy sich zu Beginn der Therapie so verhielt, habe ich das wie auch bei meinen anderen Patienten als Herausforderung betrachtet. Aber nachdem wir monatelang Fortschritte gemacht haben, fühlt sich das an wie ein Affront.
    Freud würde das Gegenübertragung nennen, oder anders ausgedrückt: Das passiert, wenn die Gefühle des Therapeuten sich mit denen des Patienten vermischen. Es ist mein Job, zurückzutreten und mich zu fragen, warum Lucy versucht, mich wütend zu machen. Auf diese Art gewinne ich wieder Kontrolle über die Emotionen in unserer therapeutischen Beziehung … und was noch wichtiger ist: Ich finde ein weiteres Puzzleteil von dem, was Lucy ist.
    Das Problem ist nur: Freud hat sich geirrt.
    Als Max und ich uns kennengelernt haben, hat er mich zum Angeln mitgenommen. Bis dahin war ich nie zum Angeln, und ich habe nicht verstanden, warum sich jemand den ganzen Tag lang auf dem Meer durchschaukeln ließ und auf einen Biss wartete, der nie kam. Das kam mir schier unglaublich sinnlos vor, reine Zeitverschwendung. Aber an diesem Tag waren die Streifenbarsche unterwegs. Max befestigte den Köder an meinem Haken, warf die Angel aus und zeigte mir, wie man sie hielt. Fünfzehn Minuten später spürte ich ein Ziehen an der Leine. Ich hab einen , sagte ich aufgeregt und nervös und hörte zu, wie Max mir ruhig erklärte, was ich tun sollte: mich rhythmisch und langsam bewegen und nie den Zug von der Leine nehmen. Doch dann, plötzlich, erschlaffte sie, und als ich sie einholte, war der Köder weg und auch der Barsch. Ich war am Boden zerstört, und in diesem Augenblick verstand ich, warum Angler den ganzen Tag lang darauf warteten, etwas zu fangen: Erst wenn man weiß, was man vermisst, fühlt man wirklich den Verlust.
    Das ist auch der Grund, warum Lucys Boykott dieser Sitzung mich mehr verletzt, als er das am Anfang getan hat. Ich kenne sie inzwischen. Ich habe eine Verbindung zu ihr aufgebaut. Und deshalb ist ihr erneuter Rückzug keine Herausforderung mehr, sondern ein Rückschlag.
    Nach ein paar Minuten schalte ich die Musik ab, und wir sitzen den Rest der Sitzung nur schweigend beieinander.
    Als Max und ich versucht haben, ein Baby zu bekommen, mussten wir zu einer Sozialarbeiterin in der Klinik, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir uns damals solchen Fragen stellen mussten wie Vanessa und ich jetzt.
    Die Sozialarbeiterin hier heißt Felicity Grimes, und sie sieht aus, als wäre sie in den Achtzigern hängen geblieben. Ihr rotes Jackett ist asymmetrisch und hat riesige Schulterpolster, und sie hat sich das Haar derart hochtoupiert, dass es als Segel dienen könnte. »Glauben Sie wirklich, dass sie zusammenbleiben werden?«, fragt sie.
    »Wir sind verheiratet«, antworte ich. »Ich denke, das ist Beweis genug für unsere Absichten.«
    »Fünfzig Prozent aller Ehen enden mit einer Scheidung«, bemerkt Felicity.
    Ich bin ziemlich sicher, dass die Sozialarbeiterin damals Max und mich nicht gefragt hat, ob unsere Beziehung Bestand haben würde.
    »Das gilt für heterosexuelle Ehen«, sagt Vanessa. »Homosexuelle Ehen sind hingegen noch nicht lange genug erlaubt, als dass es dazu Statistiken geben würde. Außerdem, wenn man bedenkt, was wir alles auf uns nehmen mussten, um überhaupt heiraten zu können, könnte man argumentieren, dass wir sogar noch entschlossener sind als das durchschnittliche, heterosexuelle Paar.«
    Warnend drücke ich Vanessas Hand. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass wir so ruhig wie möglich bleiben und alle Fragen beantworten müssen, egal wie dumm sie auch sein mögen. Hier geht es nicht darum, die Regenbogenfahne hochzuhalten. Hier geht es darum, dieses Gespräch abzuhaken, damit wir

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