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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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unsere heutige Sitzung stattfindet. Lucy hebt den Blick und strahlt mich an. »Ich hab’s geschafft!«
    »Das ist ein E-Moll-Akkord. Den habe ich auch als Erstes gelernt.« Ich schaue zu, wie sie ihn ein paar Mal spielt. »Du hast wirklich ein gutes Musikgefühl«, sage ich.
    Lucy beugt sich über meine Gitarre. »Das muss genetisch bedingt sein. Im ›Singen und Frohlocken‹ ist meine Familie ganz groß.«
    Meistens vergesse ich, dass Lucys Familie in Max’ Kirche geht. Vanessa hat mir das schon vor Monaten erzählt, als Lucy und ich begonnen haben, miteinander zu arbeiten. Wahrscheinlich kennen sie auch Max und Wade Preston. Sie haben nur noch nicht eins und eins zusammengezählt und realisiert, dass ihre geliebte Tochter Zeit mit dem personifizierten Bösen verbringt.
    »Kann ich ein Lied spielen?«, fragt Lucy aufgeregt.
    »Nun, mit nur einem Akkord mehr kannst du schon A Horse with No Name spielen.« Ich nehme ihr die Gitarre ab und spiele einen E-Moll-Akkord gefolgt von einem D.
    »Warten Sie«, sagt Lucy. Sie legt ihre Hand auf meine, sodass ihre Finger genau dort auf den Saiten ruhen, wo auch meine liegen. Dann nimmt sie meine Hand von dem Instrument weg und dreht dabei an meinem Ehering. »Der ist echt hübsch«, bemerkt sie.
    »Danke.«
    »Der ist mir noch nie aufgefallen. Ist das Ihr Ehering?«
    Ich schlinge die Arme um die Gitarre. Das ist doch so eine einfache Frage. Warum ist sie dann nicht auch einfach zu beantworten? »Wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen.«
    »Aber ich weiß so gar nichts über Sie. Ich weiß nicht, ob Sie verheiratet sind, ob Sie Kinder haben oder ob Sie eine Serienmörderin sind …«
    Bei dem Wort Kinder zieht sich mir der Magen zusammen. »Ich bin keine Serienmörderin.«
    »Das ist ja ein Trost.«
    »Schau mal, Lucy. Ich will unsere gemeinsame Zeit nicht damit verschwenden, indem ich …«
    »Es ist doch keine Zeitverschwendung, wenn ich diejenige bin, die fragt, oder?«
    Eines weiß ich inzwischen über Lucy: Sie ist unaufhaltsam. Hat sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt, dann lässt sie auch nicht davon ab. Deshalb kommt sie auch so schnell und gut mit jeder musikalischen Herausforderung zurecht, die ich ihr stelle, von der Textanalyse bis hin zum Spielen eines Instruments. Ich habe schon oft gedacht, dass das der Grund war, warum sie so losgelöst von der Welt erschien, als wir uns zum ersten Mal getroffen haben – nicht, weil sie nichts kümmerte, sondern im Gegenteil, weil sie sich zu viel Gedanken macht. Wenn sie sich intensiv mit etwas befasst, erschöpft sie das total.
    Und ich weiß noch etwas über Lucy: Sie selbst mag ja nicht sonderlich konservativ sein, aber ihre Familie ist es definitiv. Und in diesem Fall gilt: Was sie nicht weiß, kann sie auch nicht verletzen. Sollte sie zufälligerweise ihrer Mutter gegenüber erwähnen, dass ich mit Vanessa verheiratet bin, dann zweifele ich nicht daran, dass damit das sofortige Ende unserer Therapie eingeläutet würde. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass meine eigene Situation einen negativen Einfluss auf Lucys haben könnte.
    »Ich verstehe nicht, warum Sie so ein Staatsgeheimnis daraus machen«, sagt sie.
    Ich zucke mit den Schultern. »Du würdest ja auch nicht die Schulpsychologin nach ihrem Privatleben fragen, oder?«
    »Die Schulpsychologin ist auch nicht meine Freundin.«
    »Ich bin auch nicht deine Freundin«, korrigiere ich sie. »Ich bin deine Musiktherapeutin.«
    Sofort rückt Lucy von mir weg, und ihre Augenlider flattern.
    »Lucy, du verstehst nicht …«
    »Oh, glauben Sie mir, ich verstehe ganz genau«, sagt sie. »Ich bin für Sie nur ein Versuchskaninchen. Ein verdammtes Frankenstein-Experiment. Wenn Sie hier raus und nach Hause gehen, dann bin ich Ihnen scheißegal. Schon okay. Ich verstehe Sie ganz genau.«
    Ich seufze. »Ich weiß, dass du dich verletzt fühlst, Lucy, aber es ist mein Job, mit dir über dich zu sprechen. Ich muss mich voll und ganz auf dich konzentrieren. Natürlich kümmerst du mich, und natürlich denke ich auch außerhalb unserer Sitzungen an dich. Aber ich muss darauf achten, dass du mich als deine Musiktherapeutin und nicht als Kumpel siehst.«
    Lucy dreht sich auf ihrem Stuhl und starrt aus dem Fenster. Die nächsten vierzig Minuten lang zuckt sie noch nicht einmal mit der Wimper, wenn ich spiele, singe oder sie frage, was sie von meinem iPod hören will. Als schließlich der Schulgong ertönt, stürmt sie wie ein Mustang aus dem Büro. Sie ist

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